Bukarest, Donnerstagabend: Proteste gegen die Lockerung der Antikorruptionsgesetze am dritten Tag in Folge.

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Rumänien hat am Mittwoch die größten Proteste seit der Revolution 1989 erlebt. Auslöser war eine deutliche Schwächung der Korruptionsgesetze. An den Demonstrationen in verschiedenen Städten des Landes nahmen Berichten zufolge rund 300.000 Menschen teil – die Hälfte davon in der Hauptstadt Bukarest. Die Proteste waren eine Reaktion auf zwei Gesetzesentwürfe der vergangenen Dezember gewählten Regierung, die Korruption und Amtsmissbrauch massiv erleichtern. So wird Amtsmissbrauch de facto entkriminalisiert, sofern der Schaden weniger als 200.000 Lei, umgerechnet 45.000 Euro, beträgt. Das Strafmaß für derartige Vergehen soll deutlich gemildert werden, darüber hinaus sollen staatliche Bedienstete – inklusive Regierungsmitglieder und Bürgermeister – generell davon ausgenommen werden.

Kritisiert wird unter anderem, dass vor allem hochrangige Politiker der regierenden sozialdemokratischen PSD von den Änderungen profitieren würden. Unter den aktuell rund 2.000 laufenden Verfahren wegen Amtsmissbrauchs befindet sich, neben einer Vielzahl von Politikern aus allen Parteien und Geschäftsleuten, auch der Parteichef der PSD, Liviu Dragnea, der derzeit eine unbedingte Haftstrafe wegen Wahlbetrugs absitzt.

Die Vorboten der Krise

Anfang 2015 kam es in dem Bukarester Club Colectiv zu einem tragischen Unglück mit 64 Todesopfern und mehr als 100 Verletzten; korrupte Behörden hatten zuvor die dortigen Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen abgesegnet. Proteste führten im Anschluss dazu, dass die PSD-geführte Regierung zurücktrat. Die daraufhin eingesetzte technokratische Regierung wurde nach der Wahl im Dezember 2016 erneut von einer von den Sozialdemokraten angeführten Koalition abgelöst. Dabei erhielten die Sozialdemokraten etwas mehr als 45 Prozent der abgegebenen Stimmen und kamen mit ihrem Junior-Koalitionspartner auf eine deutliche Mehrheit jenseits der 50 Prozent.

Der PSD gelang es trotz der 2015 dramatisch sichtbaren Konsequenzen von Korruption, der anschließenden Proteste und des aufkommenden Optimismus nach dem Rücktritt des damaligen Premierministers Victor Ponta erneut, eine umfassende Regierungsmehrheit zu gewinnen. Überraschend daran ist, dass die PSD als deutliche Siegerin aus der Wahl hervorging, obwohl diese für eine Vielzahl an großen Korruptionsfällen bekannt ist und Korruption nach der Forderung nach höheren Löhnen und Pensionen in Wahlkampfumfragen als zweitwichtigstes Thema genannt wurde.

Niedrige Wahlbeteiligung

Bemerkenswert war zudem die niedrige Wahlbeteiligung von 39,5 Prozent, die zweitniedrigste seit 1989. Auf den ersten Blick ein Indiz für eine scheinbar weitverbreitete politische Apathie.

Das Ergebnis der Wahl versprach eine politisch angespannte und instabile Periode. Viele Beobachter erwarteten Konflikte zwischen der Regierung, dem der oppositionellen liberalen PNL nahestehenden Präsidenten Klaus Iohannis und Organen der Judikative, insbesondere der Antikorruptionsbehörde DNA. Diese traten umgehend ein, als es um die Ernennung des Premierministers ging. Präsident Iohannis sprach sich gegen den wegen Wahlbetrugs rechtskräftig verurteilten PSD-Chef Dragnea aus und lehnte auch die anschließend nominierte Sevil Shhaideh ab. Die aufziehende politische Krise konnte gerade noch abgewendet werden, als Sorin Grindeanu akzeptiert wurde.

Die aktuelle Krise

Unter dem Vorwand, aktuelle Gerichtsurteile berücksichtigen zu müssen und die überfüllten Gefängnisse entlasten zu wollen, verkündete die PSD-Regierung die eingangs angesprochenen Maßnahmen: eine umfassende Begnadigung für Gefangene sowie die Entkriminalisierung verschiedener Formen von Amtsmissbrauch. Beides solle zeitnah per Dekret, sprich ohne den regulären parlamentarischen Prozess, umgesetzt werden. Das Regierungsvorhaben mobilisierte landesweit umgehend mehr als 100.000 Demonstranten. Selbst Präsident Iohannis beteiligte sich am 22. Jänner an den Protesten und ließ verlauten, die Regierung sei "eine Bande von Politikern, die im Konflikt mit dem Gesetz stehen, Gesetze ändern und den Rechtsstaat schwächen wollen".

Als dann am Dienstag nach einer nächtlichen Sitzung unter anderem jene zwei umstrittenen Änderungen des Strafgesetzbuchs verabschiedet wurden, zeigten sich selbst einige Minister des Kabinetts verwundert. Diese waren zuvor nicht auf der offiziellen Agenda des Regierungstreffens aufgeführt und wurden somit ohne jegliche Öffentlichkeit abgesegnet.

Umgehend kam es erneut zu landesweiten Demonstrationen mit 100.000 Teilnehmern. Präsident Iohannis schaltete sich erneut ein und sprach nach der Dringlichkeitsverordnung von einem "Tag, an dem die Rechtsstaatlichkeit betrauert" werden müsse.

Am Mittwoch kam es schließlich zu den größten Protesten seit 1989 mit rund 300.000 Demonstranten, die die Rücknahme des Gesetzes sowie den Rücktritt der Regierung forderten. Die Proteste verliefen friedlich – bis eine Gruppe von 300 Hooligans auftauchte und die Polizei mit Feuerwerkskörpern und Steinen attackierte. Mehr als 60 Personen wurden festgenommen.

Kein Ende der Krise in Sicht

Weitere Proteste sind sowohl in rumänischen Städten als auch im europäischen Ausland für die nächsten Tage angekündigt. Zudem werden erste Risse innerhalb der Regierung sichtbar. Der Minister für mittelständische Unternehmen, Florin Jianu, trat am Donnerstag neben einer Reihe anderer hochrangiger PSD-Mitglieder aufgrund der Gesetzesänderungen zurück. Auch die Europäische Kommission, das Europäische Parlament sowie andere EU-Mitgliedstaaten äußerten seitdem ihre Kritik am Vorgehen der rumänischen Regierung.

Die aktuellen Proteste sind ein Zeichen dafür, dass die rumänische Zivilgesellschaft derartige Gesetzesänderungen der Regierung nicht wortlos hinnimmt. Zudem widerspricht es der eingangs angesprochenen weit verbreiteten politischen Apathie in Rumänien. Große Proteste dieser Art häuften sich in den vergangenen Jahren und sind ein Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem politischen System. Noch besteht in gewissem Maße Gewaltenteilung zwischen Regierung, Parlament, Präsident und der Judikative. Offen bleibt aber, welche Schritte die neue Regierung plant.

Aktuell scheint keiner der Beteiligten – weder die Regierung noch die Demonstranten – von seiner Position abweichen zu wollen. Daran hat sich auch nach den Protesten von Donnerstagabend nichts geändert (200.000 Teilnehmer, die dritte Nacht in Folge). Zudem warnte Präsident Iohannis die PSD davor, die Antikorruptionsbehörde abzuschaffen. Die Spannungen werden weiter wachsen, innerhalb der politischen Elite wie auch zwischen Regierung und Demonstranten. Ein weiteres Mitglied der Europäischen Union steht vor einer großen, umfassenden Krise. (Titus Udrea, Tobias Spöri, 3.2.2017)