Im Blogbeitrag "'Islamophobie': Wie falsche Begriffe falsches Bewusstsein schaffen" versuchte ich zu zeigen, wie der Begriff "Islamophobie" eine falsche fixe Verknüpfung zwischen real existierenden Individuen und dem "Islam" herstellt, so dass dann die Angst vor einer (oder die Ablehnung einer) Glaubenslehre als "rassistisch" erscheint. Rassistisch ist aber gerade jene, in falschen Begriffen wie "Islamophobie" transportierte, Ideologie der "vollen Identität" zwischen einzelnen Subjekten und einem Glaubensbekenntnis. Eine Ideologie, die Vertreter des linken und liberalen Mainstreams – ohne es zu bemerken – mit den Rassisten von FPÖ, AfD und Co teilen.

"Antimuslimischer Rassismus": ein ebenso falscher Begriff

Noch ein Wort zum Begriff "antimuslimischer Rassismus", über den, nach Erscheinen des Beitrags, auf meiner Facebook-Seite diskutiert wurde. "Antimuslimischer Rassismus" ist ein ebenso falscher Begriff wie "Islamophobie". Denn: Zum Muslim wird jemand dann, und nur dann, wenn sie oder er sich – freiwillig – zum Islam bekennt. Das unterscheidet die Kategorie "Glaubensbekenntnis" von der imaginären Kategorie Rasse, zu der man sich nicht bekennen kann, in die man (aus der Sicht der Rassisten) vielmehr hineingeboren wird. Es sei denn, wir würden jene Grundvoraussetzung der Aufklärung, die auf der Freiheit des Einzelnen der Religion gegenüber beruht, und besagt, dass Religion ein Bekenntnis zu sein hat, zu dem man sich bekennen kann – oder eben auch nicht –, aufgeben. Diese Grundvoraussetzung der Aufklärung wird durch die Rede vom "antimuslimischen Rassismus" (unbewusster Weise) hintertrieben. Zum einen, indem hier die Zugehörigkeit zum Islam implizit nicht als freiwilliges Bekenntnis betrachtet wird, sondern als "Naturtatsache". Der Islam wäre dann ein vererbbares, quasi-rassisches Merkmal, so dass der vom "antimuslimischen Rassismus" sprechende "Antirassist" hier sowohl die Position der Rassisten, als auch die des traditionellen Islam übernimmt: Gemäß der Scharia kann der Abfall eines in eine muslimische Familie hineingeborenen Subjekts vom Islam mit dem Tode bestraft werden.

Zum anderen: Da als "Muslim" nur die oder der bezeichnet werden kann, der sich zum Islam bekennt, kann die Rede vom "antimuslimischen Rassismus" nichts anderes heißen, als dass die Ablehnung des Islam als rassistisch, also als "unmöglich" gilt. Das heißt im Klartext, dass ein bestimmtes Glaubensbekenntnis nicht abgelehnt werden, dass es nur Zustimmung ernten darf. Dass es dem Einzelnen also nicht zusteht, ein bestimmtes Glaubensbekenntnis abzulehnen oder – wie radikal auch immer – zu kritisieren.

Die Gefahr, einem Zusammenhang zwischen dem Islam und einer wie immer gearteten Problematik zu begegnen, löst folglich bei linken und liberalen Vertretern der Begriffe "antimuslimischer Rassismus", "Islamophobie" et cetera großes Unbehagen aus. Wie gut, dass es den brauchbaren Begriff „Islamismus“ gibt. Man füge dem Begriff "Islam" die fünf magischen Buchstaben "ismus" hinzu – schon ist das Unbehagen beseitigt. Das Unbehagen – aber nicht das Problem.

Teheran 1979. Foto: AP/DAP/Michel Lipchitz

Es gibt keine "islamistische" Scharia

In der Islamischen Republik Iran sind bekanntlich "Islamisten" an der Macht. Dem iranischen Rechtssystem liegt seit dem Sieg der "islamistisch" inspirierten Islamischen Revolution von 1979 die Scharia zugrunde. Die Scharia, auf die das iranische Recht gründet, ist nun aber, da eine islamistische Scharia nicht existiert, keine islamistische, sondern die traditionelle islamische. Auf der Grundlage eben dieser islamischen – nicht "islamistischen" – Scharia werden nach offiziellen Angaben der Islamischen Republik Iran jährlich zehntausende Mädchen zwischen zehn und vierzehn Jahren (immer wieder auch Mädchen unter neun Jahren) verheiratet.

1974, fünf Jahre vor der Islamischen Revolution, war im Iran das Heiratsalter für beide Geschlechter, internationalen Standards entsprechend, auf achtzehn Jahre erhöht worden. Wenige Jahre nach der Islamischen Revolution von 1979 wurde dann, auf der Grundlage der islamischen Scharia, das Mindestheiratsalter von Mädchen auf neun Jahre gesenkt. Zu Beginn des neuen Jahrtausends schließlich beschloss das iranische Parlament auf Initiative von "reformislamistischen" Parteigängerinnen des damaligen Präsidenten Mohammad Khatami eine Erhöhung des Heiratsalters von Mädchen auf dreizehn Jahre. Man beachte: Hier setzten "Islamistinnen" eine bescheidene, progressive Reform (die Erhöhung des Heiratsalters von Mädchen von neun auf dreizehn Jahre) gegen den traditionellen Islam durch. Für Vertreter des linken und liberalen Mainstreams, die den hochkomplexen Zusammenhang zwischen dem sogenannten politischen und dem traditionellen Islam in die simple Dichotomie:

"Islam = (an sich) gut" versus "Islamismus = böse"

zu übersetzen gewohnt sind, ein verwirrender Befund.

Allerdings ist es – die leicht zu erlangende Einwilligung eines "kompetenten Richters" vorausgesetzt – auch im Iran des Jahres 2017 durchaus möglich, Mädchen unter dreizehn, mitunter auch unter neun Jahren, zu heiraten: siehe oben.

Auch zahllose andere gesetzlich festgeschriebene Menschrechtsverletzungen (Todesstrafen für Abtrünnige und Homosexuelle, Steinigung von "Ehebrecherinnen" et cetera) haben ihre Grundlage in der islamischen Scharia.

Um einen aus dem Iran geflüchteten Bekannten, einen ehemaligen schiitischen Geistlichen, zu zitieren: "Unser Problem im Iran ist nicht der
'Islamismus' – sondern die Scharia."

Sich "in Sachen Islam" selbst verstehen

Dieses allzu Sichtbare zu sehen, daran hindert linke und liberale Vertreter der Ideologie der "vollen Identität" ein Unsichtbares: Dass sie nicht durchschauen, dass ihr eigenes falsches Bewusstsein zwischen einem Glaubenssystem und den Menschen, die sich (vermeintlich oder tatsächlich) zu diesem bekennen, keinen Unterschied macht. So muss ihnen jede Kritik an diesem Glaubenssystem als "rassistische" Verunglimpfung jener Menschen erscheinen. Den offensichtlichen Zusammenhang zwischen Menschenrechtsverletzungen (im Iran, in Saudi-Arabien und in anderen islamisch geprägten Gesellschaften) und der islamischen Scharia können sie weder gelten lassen, noch denken. Menschenrechtsverletzungen in islamisch geprägten Gesellschaften sind für sie stets "islamistische".

Ayatollah Khomeini in Teheran 1979. Foto: Reuters

Dass Vertreter des linken und liberalen Mainstreams sichtlich davor zurückschrecken, zwischen dem Islam und konkreten Problemen islamisch geprägter Gesellschaften auch nur Berührungspunkte gelten zu lassen, offenbart ihr tiefes Unvermögen, dem Islam gegenüber eine auch nur annähernd kritische Haltung einzunehmen. Wer aber die Realität auf so durchschaubare Weise abschafft, schafft zuallererst seine eigene Glaubwürdigkeit ab. Und spielt den Rassisten von FPÖ, AfD und Co. in die Hände, statt sie zu bekämpfen.

Angesichts dieser Selbstdemontage der Vertreter des linken Mainstreams in Sachen Religionskritik können in der Auseinandersetzung mit rechten Hetzern auch ihre richtigen Argumente ihre Wirkung verfehlen. Etwa jenes, dass soziale Deklassierung zur religiösen Radikalisierung beitragen kann. Den Rassisten fällt es dann leicht, diese richtigen Hinweise auf die soziale Mitbedingtheit vermeintlicher oder tatsächlicher religiöser Phänomene als Relativierung problematischer Aspekte des "Islam" zu diffamieren.

Das ist bedauerlich, weil die Erkenntnis, dass Muslime nicht immer als Muslime, also nicht immer "aus ihrem Glauben heraus", handeln, zu Ende gedacht, die Ideologie der "vollen Identität" zwischen real existierenden Subjekten und dem Islam brechen würde. Bevor das geschehen kann, müssten aber Mainstream-Linke und -Liberale diese Ideologie, die ihre Positionen in der Islam-Debatte wesentlich mitbestimmt, überhaupt erst in den Blick bekommen. Sie müssten sich also "in Sachen Islam" selbst verstehen.

Im Islam-Diskurs von uns Linken und Liberalen gibt es also Unverstandenes. Diesem Unverstandenen sollten wir uns zu nähern versuchen – nicht zuletzt deshalb, weil die  Erkenntnis unserer blinden Flecken "in Sachen Islam" uns befähigen könnte, die neuen rassistischen Hetzer wirksam zu bekämpfen, statt ihnen immer wieder auf den Leim zu gehen. (Sama Maani, 7.2.2017)

Ende der Serie.

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