Plakat gegen weibliche Beschneidung in Uganda. Obwohl die Praxis für Mädchen oft lebensgefährlich ist, wird in vielen Ländern an ihr festgehalten. Forscherinnen haben nun einen Grund dafür gefunden.

Amnon Shavit

Die aktuellsten Zahlen der Verbreitung von weiblichen Beschneidungen in Afrika und der Arabischen Halbinsel.

wikimedia nach Daten der UNICEF 2015

Bristol/Wien – Weltweit sind nach wie vor mehr als 125 Millionen Mädchen und Frauen davon betroffen. Und das, obwohl die internationale Gemeinschaft, die Weltgesundheitsorganisation ebenso wie die Unicef die weibliche Genitalbeschneidung seit vielen Jahren als eine Verletzung der Menschenrechte und der Gesundheit von Mädchen bekämpfen.

Doch insbesondere in afrikanischen Ländern hält sich diese mittelalterlich anmutende Praxis hartnäckig, bei der meist mit Rasierklingen Teile der weiblichen Genitalien unterschiedlich radikal entfernt werden: Die Eingriffe reichen vom Beschneiden der Klitoris bis zum vollständigen Entfernen der Schamlippen, mitunter wird auch die Vagina vernäht.

Eine beharrliche Praxis

Die Genitalverstümmelung ist nach wie vor in einer Reihe west- und nordostafrikanischer Staaten erschreckend weit verbreitet. In Somalia etwa sind 98 Prozent aller erwachsenen Frauen genital verstümmelt, in Guinea sind es 97 Prozent, in Ägypten 91, in Sierra Leone 90 Prozent. Warum dieser Praxis so schwer beizukommen ist, haben die beiden britischen Forscherinnen Janet Howard und Mhari Gibson (Uni Bristol) nun erstmals aus evolutionärer Perspektive untersucht.

Dabei ist die Beharrlichkeit, mit der Beschneidungen durchgeführt werden, gerade aus dieser Perspektive auf den ersten Blick ein Rätsel: Aufgrund der Beschneidungen sterben tausende Mädchen; ihre Fortpflanzungsfähigkeit ist oftmals eingeschränkt.

Die evolutionäre Erklärung

Also recherchierten die evolutionären Anthropologinnen in fünf westafrikanischen Ländern nach Daten, um womöglich irgendeinen evolutionären "Vorteil" der Beschneidungen zu entdecken. Bei der Durchsicht von gesundheitlichen und demografischen Daten von mehr als 61.000 westafrikanischen Frauen aus 47 ethnischen Gruppen wurden sie tatsächlich fündig.

Laut ihren Analysen im Fachblatt "Nature Ecology & Evolution" zeigte sich nämlich, dass beschnittene Frauen in jenen ethnischen Gruppen, bei denen es eine hohe Rate an weiblichen Beschneidungen gibt, deutlich mehr überlebende Nachkommen haben als unbeschnittene Frauen. In Ethnien mit einem geringeren Prozentsatz an beschnittenen Frauen verhält es sich dagegen genau umgekehrt.

Soziales Kapital

Das hat natürlich Auswirkungen darauf, welche soziale Stellung beschnittene und unbeschnittene Frauen in den jeweiligen Gruppen haben: In jenen mit hoher Beschneidungsrate wirkt sich eine Beschneidung positiv auf ihr soziales Kapital und ihre Heiratschancen aus.

Diese evolutionäre Erklärung klinge etwas verstörend, sei aber dennoch "bemerkenswert und völlig neu", betont die US-Anthropologin Katherine Wander in einem Begleitkommentar. Damit werde nämlich klar, wie sehr evolutionäre und kulturelle Kräfte die Praxis von Verhaltensweisen stützen, die für die Beteiligten eigentlich schädlich sind.

Neue Gegenstrategien

Diese neue evolutionäre Erklärung der weiblichen Beschneidung liefere aber auch neue Ansätze für Gegenstrategien, sind die Anthropologinnen überzeugt. Da Bescheidungen in Ethnien mit hoher Genitalverstümmelungsrate allem Anschein nach mit mehr sozialem Kapital für Frauen einhergingen, könnten Interventionen helfen, die zu besseren sozialen Verbindungen zwischen beschnittenen und unbeschnittenen Frauen führen. Dadurch wiederum könnten die sozialen Kosten verringert werden, sich nicht beschneiden zu lassen – zum Wohle aller. (Klaus Taschwer, 6.2.2017)