Die Wahrheit? In Wirklichkeit bin ich kein Frühaufsteher. Ganz im Gegenteil. Aber genau deshalb geht es: Weil es keinen Unterschied macht. Denn wenn Aufstehen so oder so elend ist, wenn das Mich-aus-dem-Bett-Schälen in jedem Fall Überwindung kostet und wenn der Lockruf des Weichwarmwohliggeborgen auch zu jeder anderen Weckzeit mindestens so laut wie der Wecker ist, kann man gleich auch ein bisserl früher aufstehen. Wenn es einen Grund gibt. Der Trick dabei ist eigentlich einfach: Er lautet "Schönreden". Oder sich ein – egal wie abstrus-abstraktes – Ziel setzen. Ein Trainingsplan kann so etwas sein. Dann muss man es nur noch schaffen, schon rasch so weit vom Bett weg zu sein, dass sich das Umdrehen-und-wieder-unter-die-Decke-Krabbeln nicht mehr auszahlt, wenn der Kopf merkt, dass der Körper nicht mehr liegt.

Foto: Thomas Rottenberg

Das ist der Moment, in dem es im Kopf dann "Bumm" macht. Oder machen kann. Bei mir jedenfalls: Hammer-Sonnenaufgänge entschädigen für so ziemlich alles. Und wenn man dann nach einer Runde wie dieser in Bad Leonfelden in Oberösterreich nach eineinhalb Stunden zurückkommt und sich Freunde, Lieblingsmenschen, Verwandte, Arbeitskollegen oder Freunde gerade erst zum ersten Gähnen aufraffen, kann man nicht nur schon etwas als "geleistet" oder "getan" vorweisen: Man merkt mit der Zeit auch, dass der Tag nach hinten nicht kürzer wird als der der Spätaufsteher – und das Energieverbrennen in der Früh erstaunlicherweise weit weniger Kraft kostet, als es bringt. Mittelfristig.

Thomas Rottenberg

Drittens bildet Laufen. Dass hier, im Mühlviertel, bei Bad Leonfelden genau an diesem Spazierweg die europäische Wasserscheide verläuft, habe ich zwar schon mal gewusst, aber natürlich längst wieder vergessen. Und auch wenn es in meinem Alltag ins "Lexikon des nutzlosen Wissens" gehört, dass sich das Wasser genau an diesem Punkt entscheidet, ob es in Richtung Rodl und in die Donau und dann ins Schwarze Meer fließt oder doch lieber via Moldau und Elbe in die Nordsee, ist es doch fein, derlei zu wissen. Nicht nur, weil ein bisserl Allgemeinbildung nie schadet.

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Sondern auch, weil diese und andere kleine Info-Bits, die die lokalen Touristiker hier an den Weg gelegt haben, mithelfen, nach dem Körper auch den Kopf aufzuwecken: Wie komfortabel, wie kommod und wie bequem das Leben heute ist, realisiert man – insbesondere der verwöhnte Städter – ja tatsächlich kaum mehr. Der Blick auf altes, rustikales Werkzeug am Wegrand Ausgestelltes kann da durchaus Demut lehren – und sich in einen (dann) stinknormalen Arbeitstag als Motto mitzunehmen, dass man für das, was man längst unhinterfragt für selbstverständlich hält, ruhig auch ein bisserl dankbar sein kann, schadet niemandem. Mir schon gar nicht.

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Vielleicht – vermutlich – ist es ja genau das, was Laufen für mich längst zu weit mehr als einer – mutmaßlich – gesunden Körperübung macht. Das Mantra, das sich im Optimalfall irgendwann aus der Synchronisation vom Rhythmus der Schritte, der vorbeiziehenden Landschaft, der Musik aus dem iPod und dem ungestörten Fluss der Gedanken im Kopf ergibt: Solche Läufe haben etwas Meditatives – obwohl ich gleichzeitig die Augen geöffnet bekomme. Dafür, Dinge und Kleinigkeiten zu sehen – und das vermeintlich Unwichtige und Nebensächliche wieder zu schätzen, anzunehmen und genießen zu lernen. Und mich selbst nicht ganz so ernst zu nehmen.

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Freilich kann das mit dem wirklich frühen Losrennen auch danebengehen. Oder – im blödesten Fall – sogar gefährlich sein. Etwa dann, wenn man nicht den Mumm hat, sich einzugestehen, dass das so nicht nur keinen Spaß macht, sondern auch weder Sinn noch Trainingseffekt hat oder bringt.

Diesen Sonntag zum Beispiel: Auf dem Plan von Harald Fritz stand ein lockerer, langsamer Zweieinhalbstundenlauf. Und rund um Bad Leonfelden gibt es eine Unzahl perfekt markierter Wanderrouten, auf denen man endlos und wundervoll "ins Land einilaufen" kann.

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Bloß: Wenn man lange vor Sonnenaufgang los muss, um rechtzeitig wieder zurück zu sein, die Stirnlampe nach fünf Minuten den Geist aufzugeben beginnt und – das vor allem – man in Wirklichkeit keine Ahnung davon hat, wie Strecken und Wege beschaffen sein werden, ist es keine gute Idee, nicht doch ein zweites Mal zu überlegen, ob man sich nicht mit einem oder zwei netten "Ghostrun"-Bildern der Gopro zufriedengibt – und dann wieder ins Bett kriecht. Denn der helle Himmel im Bild täuscht: Die Actioncam arbeitet vollautomatisch – und lässt so lange Licht durch, bis Sensor und Chip der Ansicht sind, jetzt irgendetwas draus machen zu können, das wie ein Foto aussieht.

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Die Frage, wie das mit den Bildern beim Sololaufen funktioniert, kommt ja immer wieder. Und wird demnächst hier ein bisserl ausführlicher thematisiert werden. Kurz gesagt: Die Kamera arbeitet vollautomatisch und auf "Dauerfeuer". Wenn ich sie irgendwo ablege oder den Stick in den Gatsch oder Schnee stecke, ist die Umgebung halbwegs scharf – und je nach Lichtsituation wird das, was sich dran vorbeibewegt, scharf und genau zu erkennen oder ein schemenhaftes Etwas. "Foto" darf man es aber angeblich in jedem Fall nennen.

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An diesem Morgen zog ich dann aber die Notbremse. Ich war eindeutig zu früh losgerannt. Denn das, was tagsüber dann lustiger Lauf-Schneematsch sein würde, war um sechs Uhr morgens noch bockhart und gefroren. Und entweder spiegelglatt – oder aber, und das fast durchgehend, von Holz- und anderen Treckern und Traktoren am Tag zuvor tief verspurt worden: Auf so einem profilierten, hartgepressten und knackig vereisten Untergrund zu laufen ist in etwa so komfortabel wie über Eisenbahnschwellen zu rennen. Ohne Licht und ohne die Strecke zu kennen, macht das nicht nur keinen Spaß, es ist auch alles andere als safe. Also: Abbruch. Es geht ja um nix.

Dass sich das an diesem Tag noch als die richtigste Lauf-Entscheidung seit langem erweisen würde, wusste ich da aber noch nicht.

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Später, am Nachmittag und wieder in Wien, gratulierte ich mir dann dazu, verschob alles Arbeiten auf den Abend – und beschloss, den in Oberösterreich abgebrochenen Lauf jetzt in Wien zu Ende zu rennen: Der Winter machte Pause – und dass nicht nur ich von Kälte, Wind und Wääh-Wetter mittlerweile mehr als genug habe, war schon beim ersten Park, durch den ich kam, nicht zu übersehen. Ja, es ist Winter. Ja, im Winter ist es vollkommen normal, dass es schneit und friert. Und ja, Anfang Februar über den Winter zu jammern ist ein bisserl neben der Spur.

Trotzdem: In der Stadt brauche ich ihn nicht wirklich. Und bei zehn Grad plus Sonne, Licht und Vitamin D zu tanken kann was. Auf jeden Fall mehr, als im Dunkeln frierend über vereiste Traktorspuren zu stolpern.

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Ich war – wenig überraschend – nicht der Einzige, der die Idee hatte rauszugehen. Aber das Ausmaß des kollektiven Sonnentankens überraschte mich dann doch: In den Cityparks hätte man für die Sitzplätze auf den Bänken Nummern ausgeben und Geld verlangen können. Am Donaukanal war an manchen Stellen das Laufen schlicht und einfach nicht möglich – und auf der Prater Hauptallee ging es zu wie an einem Weihnachtseinkaufssamstag auf der Mariahilfer Straße. Und das nicht nur im rasch einmal dichtbevölkerten Bereich zwischen Praterstern und Bowlinghalle, sondern auf der ganzen Strecke – bis hinauf zum Lusthaus.

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Als echter Wiener hatte ich da natürlich sofort etwas zu matschgern: Hätte ich etwas anderes als einen gemütlichen Grundlagenlauf auf dem Plan gehabt, wäre das hier heute tatsächlich mühsam geworden. An Intervalle etwa sollte man nicht einmal im Traum denken, wenn hinter jedem dritten Erwachsenen plötzlich ein Kind am Bobbycar oder Tretroller hervorschießen kann – und wird.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich begrüße es, wenn Kinder im Freien spielen und toben. Man muss nicht den Vertrauensgrundsatz strapazieren, um festzuhalten, dass sie Vorrang haben. Ganz besonders in so einem Setting: Das ist gut und richtig so.

Foto: Thomas Rottenberg

Trotzdem war ich froh, beim Slalomlaufen plötzlich Gesellschaft zu haben: Der Wiener Coach und Personaltrainer Mario Mostböck und der Herausgeber und Chefredakteur des Triathlonmagazins "Triaguide" Andreas Wünscher würden mir normalerweise so um die Ohren rennen, als säße ich auf einer Parkbank, an der ein D-Zug vorbeifährt. Aber da die beiden ihre Longjogs in der Grundlage abspulten, Trab-plauderten wir ein paar Kilometer Seite an Seite – und freuten uns über das Wetter: "Wer heute nicht rausgeht, der lernt es echt nimmer", stellte Wünscher trocken fest, als wir uns dann voneinander verabschiedeten: Die beiden hatten ihre 30er ziemlich fertig, ich hatte noch einen Zehner vor mir.

Foto: Thomas Rottenberg

Das Feine am Laufen bei so einem Wetter und nach so einer langen Grau-kalt-Phase: Auf den Trampelpfaden ist man nicht lange allein unterwegs. Schließlich ist Wien in vielerlei Hinsicht nur ein mittelgroßes Dorf – und irgendwann kennt man einander. Zumindest vom Sehen und Einanderzunicken.

Obwohl ich diesen Kollegen schon sehr sehr lange nicht gesehen habe: Dass Tobias Müller, der kongeniale STANDARD-"Gruß aus der Küche"-Foodblogger, über die hohe Kunst, Essen schon bei der Zubereitung zu zelebrieren, besser schreibt, als meine Tischmanieren je reichen werden, hatte ich schon vorher gewusst. Dass Müller auch läuft, nicht – obwohl es mich nicht überrascht.

Doch obwohl wir einander seit Jahren nicht mehr gesehen hatten, schlug ich seine Einladung, ihn und Sarah ein paar Kilometer zu begleiten, aus: Die beiden sind wundervoll, sympathisch und nett. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich das Angebot mit Freuden angenommen. Aber nach 20 Kilometern wollte ich dann einfach keinen Tempo- und Rhythmuswechsel mehr – weder in die eine oder die andere Richtung.

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Die letzten paar Kilometer wollte ich einfach nur noch für mich laufen. Kopfleerkriegen für die kommende Woche. Sonnetanken. Frühlingsbilder aufsaugen und abspeichern. Schließlich hatte der Wetterbericht schon für den Abend einen Umschwung angekündigt: Back to normal. Fade to Grey. 100 Shades of Grauslich. Auch wenn es ganz normal ist, dass es im Winter winterlich ist: Der kurze Anflug von und Ausflug in den Frühling hatte gutgetan. Lust auf mehr, auf warm, auf Sonne gemacht.

Aber ein bisserl werden wir da wohl noch warten müssen. Und bei aller Frühlingssehnsucht: In Wirklichkeit ist das ganz okay so. (Thomas Rottenberg, 8.2.2017)


Mehr Geschichten vom Laufen gibt es unter derrottenberg.com zu lesen.

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