Gut, besser, Burnout: Zu hohe Erwartungen an sich selbst sind ungesund. Den Gedanken, immer Spitzenleistungen bringen zu müssen, gelte es abzulegen, sagt Psychologe Franz Oberlehner. Er berät seit 25 Jahren Studierende.

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STANDARD: Bis zu welchem Punkt ist Perfektionismus nicht schädlich – oder gar nützlich?

Oberlehner: Ein gewisses Ausmaß macht produktiv und spornt an. Man arbeitet genauer. Kippen kann es, wenn der Perfektionismus gar nicht mehr zu steuern ist, es nie genug sein kann. Wenn er stärker in überhöhten Ansprüchen begründet ist als in der Leidenschaft für eine Sache, dann ist er jedenfalls kontraproduktiv.

STANDARD: Gibt es einen typischen Perfektionisten, eine typische Perfektionistin?

Oberlehner: Es gibt zwei Arten von Perfektionisten: den zwanghaften Typ, der alles ganz genau wissen will, alles zu lernen versucht, um sich unangreifbar zu machen – und sich dann in Kleinigkeiten verliert. Dann gibt es noch den narzisstischen Typen. Er denkt, etwas ganz Großartiges abliefern zu müssen, womit er die anderen übertrifft. Dabei geht es meist dar um, mangelndes Selbstbewusstsein auszugleichen. Der Narzisstische steht in starker Konkurrenz zu anderen. Er tut sich oft schwer mit der Position, noch normaler Student zu sein.

STANDARD: Was sind die Folgen von überbordendem Perfektionismus?

Oberlehner: Es kann zu Lähmungen kommen – man verzettelt sich so sehr, dass gar nichts mehr geht und man wochenlang gar nichts mehr lernen kann. Perfektionismus kann auch dazu führen, dass man Aufgaben nur noch aufschiebt. Ebenso eine mögliche Folge ist, dass man seine Lebendigkeit verliert.

STANDARD: Kommen Studierende zu Ihnen und sagen: Ich bin Perfektionist, helfen Sie mir? Oder kommen sie aus anderen Gründen, und das wahre Problem entpuppt sich erst im Gespräch?

Oberlehner: Beides kommt vor. Manche finden es ganz normal, zwölf Stunden am Tag zu lernen und jede kleine Fußnote können zu müssen, um sich bei einer Prüfung antreten zu trauen. Bei ihnen geht es erst mal darum, Bewusstsein für das Problem zu schaffen. Andere kommen, weil sie an sich Symptome erkennen. Sie empfinden es als belastend, immer alles ganz genau machen zu müssen.

STANDARD: Was hilft?

Oberlehner: Wichtig ist zu erkennen: Man muss nicht perfekt sein, und das kann auch niemand sein. Niemand kann für Prüfungen so lernen, dass er mit hundertprozentiger Sicherheit durchkommt. Man kann nie alles wissen. Dasselbe gilt für schriftliche Arbeiten. Hier gilt es, früh den Kontakt mit dem Betreuer zu suchen, um nicht den eigenen Fantasien, was alles schieflaufen könnte, ausgeliefert zu sein. Ein Tipp: Immer wieder Entwürfe abschicken, um realistisches Feedback zu bekommen. Was schließlich ebenfalls wichtig ist: zu akzeptieren, dass man durchschnittlich, dass man nur einer von vielen ist.

STANDARD: Das ist beinahe eine philosophische Auseinandersetzung ...

Oberlehner: Seinen Selbstwert nur über Studium oder Arbeit herzustellen, ist schlecht. Schließlich kann es kaum gelingen, dort immer Spitzenleistungen zu bringen. Hingegen ist es wichtig, seine Stärken realistisch einschätzen zu können und sich nicht nur in den Extremen – ganz toll oder total unfähig – zu bewegen.

STANDARD: Ist für die sogenannten Millennials, die von ihren Eltern viel Aufmerksamkeit erfahren haben, dieses Aushalten der eigenen Durschnittlichkeit schwieriger?

Oberlehner: Bestimmt. Kinder befinden sich heute stärker im Mittelpunkt des Lebens ihrer Eltern. Sie stürzen dann in eine Welt, in der sie nicht mehr total hervorstechen, nicht mehr alle Aufmerksamkeit bekommen.

STANDARD: Fördert auch die Null-Fehler-Mentalität in der Gesellschaft Perfektionismus?

Oberlehner: Dieses Nicht-Scheitern-Dürfen spielt sicher eine Rolle. Wenn man Angst vor der Reaktion des Chefs hat, verwendet man vielleicht zu viel Zeit für eine Aufgabe, nur um bloß nichts falsch zu machen. Dass man aus Fehlern aber lernt, ist eine Binsenweisheit. Es bräuchte eine bessere Fehlerkultur. Bei vielen wird Perfektionismus aber auch ausgelöst durch ihre Erziehung und die Erwartungen der Eltern.

STANDARD: Was sind noch Auslöser? Psychiater Raphael Bonelli spricht von genetischer Veranlagung und dem eigenen Zugang. Lasse ich mich von der Angst treiben?

Oberlehner: Bis zu einem gewissen Ausmaß kann Perfektionismus sicher genetisch veranlagt sein. Aber auch die Psyche spielt eine Rolle: Das Zwanghafte – und damit das Perfektionistische – ist immer auch ein Versuch, die Kon trolle zu behalten, nicht ausgeliefert zu sein. An die eigenen Gefühle und an die anderer. Je eher man sich auch einmal gehen lassen kann, desto eher kann man Perfektionismus aufgeben.

STANDARD: Kann man gelassener werden, indem man surfen geht oder Yoga macht?

Oberlehner: Alles, womit man sich selbst regulieren kann – sei es körperlich oder psychisch –, ist hilfreich. Dazu ist auch Tanzen eine Möglichkeit. Diese Methoden funktionieren natürlich nicht mehr bei jenen, bei denen Perfektionismus zu einer massiven psychischen Störung wurde. Für sie ist es ein Gräuel, Kontrolle aufzugeben – es etwa bei einer Party lustig zu haben. Sie sollten sich professionelle Hilfe suchen. (Lisa Breit, 16.2.2017)