Der große italienische Filmmusikkomponist Ennio Morricone lieferte in der Wiener Stadthalle mit einem 200-köpfigen Chor und Orchester eine Tour de Force durch sein Schaffen.

Foto: Robert Newald

Wien – Zu den wenigen wunderbaren Begleiterscheinungen eines ständig fortschreitenden Lebens zählt jene, dass man zunehmend weniger bereit ist, Zeit zu verplempern. Abgesehen von Leuten, die in der Pension mit der Wiener Ringlinie im Kreis fahren und über die Reisebusse aus dem Osten keppeln, im Park Tauben vergiften, Hasspostings auf Papier schreiben und frankiert abschicken (wir erinnern uns) oder sich vornehmen, am Nachmittag ein Stück Schokolade im Mund zergehen zu lassen, hat es zum Beispiel Ennio Morricone erfreulich eilig. Auf dem Plakat steht "Beginn 20 Uhr". Das Konzert beginnt also um Punkt 20 Uhr.

Alles schaut zu mir!

Mit seinen sagenhaften 88 Jahren stürmt der italienische Allzeit-Weltmeister der Filmmusik in der Wiener Stadthalle geradezu Richtung Dirigentenpult mit der Sicherheitsreling. Er setzt sich auf seinen Ikea-Schreibtischsessel und – Ruhe jetzt, alles schaut zu mir! – fuchtelt eine Zweihundertschaft in Reisebussen angekarrtes tschechisches Orchester und Chor erst einmal in Novecento – Die Legende vom Ozeanpianisten. Es handelt sich um eine jüngere, aus 1998 stammende Arbeit Morricones für den Regisseur Giuseppe Tornatore. Die ebenso schwelgerische Titelmelodie zu Tornatores Cinema Paradiso wird uns eine Viertelstunde später die Tränen der Rührung in die Augen treiben.

Die männliche Fachwelt kennt und schätzt Ennio Morricone ja vor allem wegen seiner legendären Italowestern-Soundtracks. Spiel mir das Lied vom Tod: Nein, spielt er heute nicht! Zwei glorreiche Halunken: Eigentlich sind es mit The Good, the Bad and the Ugly drei, die Titelmelodie und vor allem auch das Jahrhundertstück The Ecstasy of Gold werden dankenswerterweise heute in der Stadthalle gegeben.

Wimmelbild mit Diva

Ja, auch Männer können weinen. Die Ergriffenheit über die eigene Ergriffenheit. The Hateful Eight: Das Hauptmotiv, Stage Coach to Red Rock, mit der quäkenden, die Zehennägel aufrollenden Englischhorn-Melodie, brachte ihm nach über 500 Soundtrackarbeiten, abgesehen vom wahrscheinlich einem schlechten Gewissen geschuldeten Preis für sein Lebenswerk 2007, erst 2016 seinen ersten Oscar. Das muss man sich einmal vorstellen.

Teile von The Hateful Eight komponierte Morricone schon Anfang der 1980er-Jahre für John Carpenters ebenfalls in eisiger Luft spielenden Horrorklassiker Das Ding. Aus dieser Arbeit wird nun während seiner Abschiedstournee das ebenfalls an die Nieren gehende Bestiality gegeben.

Links mittig im Wimmelbild auf der Bühne sitzt auch eine Rockband mit hübschen Föhnfrisuren und fünfsaitiger Bassgitarre. Sie agiert aufreizend gelangweilt und erinnert an eine Tanzkombo auf einem Kreuzfahrtschiff, bei der sich Überdruss und Übersäuerung des Magens zwischen Hongkong und Hawaii einen stetigen Kampf liefern. Die Band verleiht aber Stücken wie Chi Mai aus dem Jean-Paul-Belmondo-Actionvehikel Der Profi von 1981 eine angenehm Richtung Easy Listening und James Last gehende Leichtigkeit. Durchatmen, mitschnippen. Richtig hart wird es bei Morricone immer dann, wenn es mit den Einbratgeigen Richtung große Oper und Gefühlsüberwältigung geht (Deborah's Theme aus Es war einmal in Amerika). Auch eine herrlich textlos sopranisierende Koloraturdiva in blutroter Abendgarderobe betritt die Bühne (Abolison aus dem Kolonialismus-Reißer Queimada – Insel des Todes mit Marlon Brando).

Finale Himmelfahrt

Nach einer Pause, in der es in 20 Minuten gelingt, 200 Musiker von der und wieder auf die Bühne zu bringen, wird aus allen Geschützen gefeuert. Die finale Himmelfahrt kommt als Soundtrack von The Mission daher, On Earth as it is in Heaven – der Film mit Robert de Niro, der zwar eine Oscar-Nominierung für die Musik bekam, mit dem Morricone 1987 allerdings leer ausging. Das wurmt den strengen Maestro bis heute so sehr, dass Stücke aus The Mission seit damals einen zentralen Teil seiner Konzerte beanspruchen.

Von über 500 Filmmusiken hat Ennio Morricone, dieser Großmeister des Sentiments, übrigens nur gut 30 Western gemacht. Große Verbeugung. Am Ende die Sensation, Ennio Morricone lächelt. Also, er lächelt fast. (Christian Schachinger, 9.2.2017)