Maria Gugging – "Die echte Kunst ist stets dort, wo man sie nicht erwartet. Wo niemand an sie denkt, noch ihren Namen nennt." Diese Zeilen schrieb der französische Künstler Jean Dubuffet (1901-1985) im Begleittext zu einer von ihm organisierten Ausstellung 1949 in der in Pariser Galerie Drouin, die genau diese übersehene Kunst ins Licht rückte. Gezeigt wurden – unerhörterweise – Arbeiten aus der Hand von Psychiatrie- oder Gefängnisinsassen, aber auch Volkskunst oder Kinderzeichnungen.

Pascal-Désir Maisonneuve:
"Der Tartar"(um 1927).

Vier Jahre zuvor, 1945, war Dubuffet ausgezogen, die Kunst im Schatten und im Abseits der Gesellschaft zu erforschen. Er, der große Zeiträume seines Lebens selbst mit der Malerei gehadert hatte, war der offiziell anerkannten Kunst überdrüssig geworden. Dubuffet sehnte sich nach einer unverstellten, nicht verbildeten, freien Kunst, nach einer, die aus nichts als den "Tiefen des Selbst" geschöpft sein sollte, keine Konventionen, keine Klischees, keinen Akademismus bediente.

Autodidakten bejubelt

200 Arbeiten dieser Sammlung pflanzte Dubuffet dann also 1949 in die Pariser Kunstöffentlichkeit. Mancher Journalist war verdattert, der etwa nicht verdauen konnte, dass hier Autodidakten bejubelt wurden. Die Intellektuellenszene – der Ethnologe Claude Lévi-Strauss oder der Schriftsteller André Malraux – sympathisierte freilich mit Dubuffet. Jedenfalls aber lässt sich diese Schau als Geburtsstunde des Begriffs Art brut im Kunstdiskurs betrachten. Die "rohe Kunst", so hatte Dubuffet das Objekt seines Interesses genannt.

Und insofern ist es also eine Rückschau zu den eigenen Wurzeln, wenn das Museum Gugging nun ebendiese Ausstellung in gewisser Weise wiederaufleben lässt. Unter dem Titel jean dubuffets art brut.! zeigt man aktuell 169 Exponate, die seinerzeit auch in Paris zu sehen waren.

Schlange mit Musik

Entstanden ist die Präsentation in Kooperation mit der Collection de l'art brut Lausanne, die 1976 gegründet wurde: Fünf Jahre zuvor hatte Dubuffet seine Sammlung der Stadt geschenkt. Kinderzeichnungen und Volkskunst hat er später übrigens aus seinem Begriff der Art brut ausgenommen.

Zu entdecken sind neben zahlreichen Arbeiten von weniger bekannten Künstlern auch große Namen der Art brut, etwa Auguste Forestier oder Adolf Wölfli. "Sankt Adolf, am Bein von einer Schlange gebissen", so heißt eine von dessen dichten Buntstiftzeichnungen, in die er sich gerne selbst aufnahm – diesfalls etwas ins Eck gedrängt von einer Art Pythonschlange, die mit Notenschrift gemustert ist. Dubuffet war Wölfli 1945 auf seiner ersten Reise in die Schweiz in einer psychiatrischen Heilanstalt begegnet.

Neue Wahrnehmungswelten

Das Glück dieses Suchers nach der unverstellten Kunst waren dabei nicht zuletzt jene Ärzte, die erkannt hatten oder auch nur ahnten, dass diese Kunst weniger abweichend war, denn vielmehr bloß neue Wahrnehmungswelten erschloss. In Wölflis Fall etwa war es der Psychiater Walter Morgenthaler, der das insgesamt rund 25.000 Seiten umfassende Schaffen seines Patienten schon ab 1904 aufbewahrt hatte.

Abseits davon breitet sich eine aberwitzige Fülle von Arbeiten aus, neben Zeichnungen auch Gemälde und Objekte. Faszinieren können etwa die abstrakten Wollarbeiten Juliette Élisa Batailles oder die Zeichnungen Jeanne Tripiers, die sich als "Medium" verstand. Auch in den außereuropäischen Bereich reist man auf den Spuren von Jean Dubuffet, etwa mit den Zeichnungen des Brasilianers Albino Braz, die quasi "mythologisierend" das Widerspiel von Mensch und Tier thematisieren.

Nicht zwangsläufig waren im Übrigen "Anstalten" das Ziel von Dubuffets Reisen: Er fand seine "echte" Kunst auch auf der Straße. An jenen Straßenecken, wo man sie "täglich zwanzigmal" anrempelt, wie es im eingangs zitierten Begleittext seiner Ausstellung L'art brut weiter heißt: "Doch nicht einer kommt auf die Idee, es könne sich um Frau Kunst persönlich handeln, über die so viel Gutes berichtet wird. Weil sie gar nicht danach aussieht." (Roman Gerold, 11.2.2017)