"Welche Investoren steigen in der aktuellen Marktlage schon ins lineare Fernsehgeschäft ein?", fragt sich Medienwissenschafter Josef Trappel.

Foto: Privat

STANDARD: ORF-General Alexander Wrabetz schrieb im Zusammenhang mit dem ATV-Verkauf vom "Anschluss" – ist die drastische Wortwahl berechtigt?

Trappel: Nein, das ist massiv überzogen. Nach meiner Erinnerung wurde diese Formulierung im Zusammenhang mit Medienzusammenschlüssen zuletzt gebraucht, als 1987 und 1988 die damalige WAZ bei "Krone" und "Kurier" eingestiegen ist. Damals waren die beiden auflagenstärksten Tageszeitungen betroffen. ATV hat bei weitem nicht diese Bedeutung für die österreichische Fernsehlandschaft.

STANDARD: Was hält der Kommunikationswissenschafter von der ATV-Übernahme durch ProSiebenSat1Puls4?

Trappel: Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht sind zwei Aspekte wichtig: Erstens entsteht mit diesem Zusammenschluss ein Fernsehveranstalter in Österreich, der von Deutschland aus verwaltet wird und den österreichischen Fernsehwerbemarkt dominiert. Das ist schon heute so. Durch die Übernahme wird dieser Zustand aber zementiert.

Wir müssen damit rechnen, dass Österreich noch mehr zur Werbemelkkuh von ProSiebenSat1 wird. Das Geld fehlt der österreichischen Fernsehwirtschaft. Zweitens ist die redaktionelle Vielfalt betroffen. In Zukunft kommen Nachrichten, Kommentare und Einschätzungen aus demselben Haus. Werden die Budgets kleiner, und damit ist zu rechnen, dann werden wohl auch die Redaktionen von Puls 4 und ATV enger verzahnt oder gar ganz zusammen gelegt. Österreich verliert eine redaktionelle Stimme. Das ist unerfreulich.

STANDARD: Was bedeutet der Deal für die österreichische TV-Landschaft?

Trappel: Die Auswirkungen für den Zuschauermarkt sind überschaubar. ATV war und ist kein Zuschauermagnet, und die meisten Österreicherinnen und Österreicher kamen gar nie richtig in Kontakt mit diesem Sender. Sie werden also wenig merken. Für den Werbemarkt bedeutet die Übernahme eine weitere Konzentration mit steigender Marktmacht von ProSiebenSat1. Darüber beklagt sich ja auch der ORF-Generaldirektor. Und publizistisch wird es in absehbarer Zukunft wohl eine redaktionelle Stimme weniger geben.

STANDARD: Was bedeutet der Deal für die österreichische Produktion?

Trappel: Jeder Fernsehveranstalter ist gut für die einheimische audiovisuelle Produktion. Allerdings spielt hier der ORF die Hauptrolle, der ja gesetzlich dazu verpflichtet ist, in heimische Produktion zu investieren. Die privaten Veranstalter tun das nur dann, wenn sich solche Produktionen rechnen. Und das tun die wenigsten. Das Werbegeld, das durch die ProSiebenSat1-Pipeline von Österreich nach Deutschland fließt, fehlt hierzulande bei der Produktion.

STANDARD: Was bedeutet der Deal für den ORF im Speziellen?

Trappel: An der beherrschenden Rolle des ORF im Zuschauermarkt ändert die Übernahme nicht viel; im Werbemarkt werden die Bandagen härter, die Preise werden noch stärker unter Druck geraten. Das ist für ProSiebenSat1 verkraftbar, schließlich ist Österreich ein sehr kleines Nebengeschäft für den deutschen Riesen. Für den ORF sind fallende Werbepreise hingegen ein großes Problem. Rückgänge bei den Werbeerlösen müssen kompensiert werden – durch Einsparungen bei Programm oder Personal oder durch höhere Gebühren. Beides ist unerwünscht.

STANDARD: Kann man überregionales Privatfernsehen in Österreich ohne Konzernanbindung – bis auf Nischen wie den Musiksender Gotv – vergessen?

Trappel: Nein, vergessen nicht. Aber die letzten 15 Jahre haben gezeigt, dass Kleinstaaten kaum die Ressourcen haben, um privates Vollprogramm über den Werbemarkt zu finanzieren. Daran ist nicht der ORF schuld, sonst gäbe es zum Beispiel in Schweden und Norwegen einen blühenden privaten Sektor, denn dort ist der öffentliche Rundfunk werbefrei. Österreich ist da keine Ausnahme. Selbst Servus TV mit der prall gefüllten Red-Bull-Kassa im Rücken kommt beim Publikum kaum vorwärts. Das ist zur Kenntnis zu nehmen.

STANDARD: ATV hat seit seiner Gründung über Jahrzehnte Verluste geschrieben, meist zweistellige im Eigentum von Programmhändler Herbert Kloiber. Wo tut sich da ProSiebenSat1Puls4 wirtschaftlich leichter?

Trappel: Man muss schon sehen, dass ATV von Beginn weg von Herrn Kloiber als zusätzliche Abspielstelle für sein eigenes Programm gedacht war. Puls 4 hat als Stadtsender eine andere Geschichte und ist bei seinem Publikum besser verankert. Hinzu kommt, dass Puls 4 von der Erfahrung von ProSiebenSat1 profitieren kann, ATV hingegen nur von jener des Filmhändlers Kloiber.

STANDARD: Wettbewerbsrechtlich wäre ein Verkauf an Mediaprint/"Krone"/"Kurier", an "Heute" oder "Österreich" einfacher gewesen – weil die andere Medienmärkte als das Fernsehen beherrschen oder zumindest bespielen. Wie sähe der Kommunikationswissenschafter einen ATV-Verkauf etwa an Mediaprint/"Krone"/"Kurier" oder "Heute"?

Trappel: Eine Übernahme durch ein österreichisches Medienhaus wäre deutlich problematischer als jene durch ProSiebenSat1. Hätten sich andere Investoren aus Österreich gefunden, die mit einem überzeugenden Konzept ATV neu positioniert hätten, dann hätte die Vielfalt profitiert. Aber welche Investoren steigen in der aktuellen Marktlage schon ins lineare Fernsehgeschäft ein? Eine intelligent vernetzte TV-Web-Kombination hätte aber durchaus Chancen im digitalen Kommunikationsumfeld.

STANDARD: Wird sich der Deal auf die Inhalte bei ATV auswirken?

Trappel: Ja, davon ist auszugehen. Zwei Szenarien sind denkbar: Im positiven Szenario betrachten die neuen Eigentümer den österreichischen Markt als so interessant, dass sie ATV eigenständig weiterführen und komplementär zu Puls 4 positionieren. Also nicht more of the same, sondern als Kontrast und für eine andere Zielgruppe. Das erfordert unternehmerischen Mut und Managementgeschick.

Das Negativszenario ist billiger und einfacher: ATV lebt nicht mehr lange. Die neuen Eigentümer schaffen sich eine lästige Konkurrenz durch Übernahme vom Hals und machen ATV kurzerhand zu, früher oder später. Jetzt kommt es darauf an, ob eine unternehmerische Vision oder die Buchhaltung mit dem Rechenschieber die Oberhand behält.

STANDARD: Spielt die Entscheidung der Wettbewerbsbehörde überhaupt noch eine Rolle?

Trappel: Ja, die Behörde hat es in der Hand, das Gesetz sinngemäß umzusetzen und durch Auflagen dafür zu sorgen, dass die redaktionelle Eigenständigkeit von ATV erhalten bleibt. In ähnlichen Fällen hat die Behörde eine Bestandsgarantie von mehreren Jahre verlangt.

Eine solche Auflage ändert zwar nicht die Marktdynamik, verschafft der ATV-Redaktion aber Zeit, eine neue profitable Marktposition zu finden. Selbst wenn dies nicht gelingt, so haben die Auflagen dann immerhin bewirkt, dass es noch eine Weile eine weitere Stimme in der österreichischen Fernsehlandschaft gibt. (Harald Fidler, 14.2.2017)