Hier findet gleich ein rhetorischer Infight statt: Die Frage, ob der britische Philosoph Bertrand Russell den jüdischen Studenten Marcus Messner (Logan Lerman) zum Atheisten gemacht hat, lässt auch Dekan Caudwell (Tracy Letts) zur Hochform auflaufen. Eine brillante Szene aus James Schamus' "Empörung".

Foto: X Verleih

Kenner der US-Geschichte: James Schamus.

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Wien – Als Marcus Messner, Sohn eines jüdischen Metzgers aus Newark, sein Studium an einem College in Ohio antritt, ahnt er nicht, dass die Flucht vor seinem überängstlichen Vater ihn an den Ort seines systematischen Untergangs geführt hat. Während sich die Vereinigten Staaten in Korea immer tiefer im Krieg verstricken und zu Hause den Konformismus predigen, probt Messner den Aufstand – und muss dafür bitter bezahlen.

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STANDARD: Warum haben Sie sich für Ihr Regiedebüt ausgerechnet Roths "Empörung" ausgesucht?

Schamus: Ich stand auf dem Flughafen in einer Buchhandlung und habe nach einem dünnen Buch gesucht, denn ich bin ein sehr langsamer Leser. Da ist mir Empörung aufgefallen. Es ist ein später Roman von Roth, in dem er in einem ganz anderen Stil schreibt, vor allem aber ist er sehr kurz, eher eine Novelle. Ich dachte zunächst an einen Film für Ang Lee, der sich damals aber für größere und technisch aufwendigere Projekte wie Life of Pi interessierte. Da war ich auch noch Studiochef von Focus Features. Als sie mich dann dort rausgeworfen haben, dachte ich mir: Jetzt mach ich's selbst.

STANDARD: Irgendwie scheint Roth Erstlingsfilme anzuziehen, unlängst hat auch Ewan McGregor mit "Amerikanisches Idyll" sein Regiedebüt vorgelegt.

Schamus: Amerikanisches Idyll ist im Vergleich zu Empörung ein anderes Kaliber, und McGregor hat das sehr gut hinbekommen. In beiden Fällen gilt, dass Roth mit einer ziemlich groben, ehrlichen Stimme spricht und man mit seinen Figuren außerhalb des Romans nicht unbedingt gerne Lebenszeit verbringen möchte.

STANDARD: Jedenfalls möchte man nicht mit Marcus Messner dasselbe College besuchen.

Schamus: Als Roth Empörung schrieb, war er schon über siebzig. Das war kurz vor der Finanzkrise, und er schien zu riechen, was da bis heute alles auf uns zukommen würde, auch den Aufstieg des amerikanischen Faschismus. Natürlich ist er nicht Marcus Messner, aber auch er besuchte als Jude ein christlich-konservatives College, hatte seine erste sexuelle Erfahrung mit einer Nichtjüdin, und Messners Empörung ist auch die seine. Die Geschichte eines brillanten jungen Mannes, der sich zur Wehr setzt und den das System – die McCarthy-Ära mit ihrem Rassismus und ihrer Diskriminierung – am Ende umbringt. Empörung ist ein sehr zorniges Buch.

STANDARD: Sie bleiben mit Ihrer Adaptierung sehr nahe an der Vorlage, verwenden über weite Strecken sogar dieselben Dialoge.

Schamus: Das ist richtig, denn ich wollte nahe an den Figuren bleiben. Und ehrlich gesagt, ich brauche einen Satz von Roth nicht umzuschreiben. Ich habe Romane adaptiert, etwa Rick Moodys Der Eissturm, bei denen ich die Dialoge überhaupt erst schreiben musste. Bei Roth ist die Schwierigkeit eher die, dass man sich, je näher man seinen Figuren kommt, von ihm als Autor entfernt, da einem dadurch die Zwischentöne verlorengehen. Der Film bekommt dadurch etwas Unschuldiges. Zum Beispiel gehört die Stimme, die bei Roth aus der Ichperspektive erzählt, nicht einem 19-jährigen Mann. Ich musste sie also zu Marcus' Stimme machen.

STANDARD: Die Stimme eines Toten.

Schamus: Ich bin immer wieder über die Reaktionen amüsiert: Die Leute wissen, dass er tot ist, aber sie wollen es nicht wahrhaben, also glauben sie es ihm einfach nicht. Ich betrachte das auch nicht als Spoiler, man weiß auch, wie La Traviata ausgeht, und geht trotzdem in die Oper. Wir verraten es im Film bloß ein wenig später als Roth im Roman.

STANDARD: Wer könnte Marcus Messner heute sein? Ein unangepasster Systemkritiker?

Schamus: Möglich. Jedenfalls eine Mischung aus Unschuld und Intelligenz. Er erinnert mich an meine beiden Töchter, die sind jetzt knapp über zwanzig und definitiv schlauer als ich.

STANDARD: Sie nehmen mich auf den Arm?

Schamus: Absolut nicht. Die Jüngere nenne ich "Leader of the opposition party".

STANDARD: Ist es wichtig, sich politisch zu empören?

Schamus: Eine Politik der Empörung hat oft mit Wut und damit mit einer Angst zu tun. Mit einer Angst, die in den Demokratien missbraucht und instrumentalisiert wird. Das Ergebnis ist der Hass, den wir jeden Tag erleben. Andererseits waren die Liberalen in den USA voriges Jahr nicht so wütend, wie sie es hätten sein sollen – und überließen das stattdessen Trump und vielen anderen Leuten. Ich denke, Sie wissen als Österreicher sehr gut Bescheid.

STANDARD: Sie haben sich in vielen Ihrer Filme mit US-amerikanischer Geschichte beschäftigt, vom Bürgerkrieg bis Woodstock.

Schamus: Ich mag historische Stoffe, da man die Charaktere wie in einem Mikrokosmos aufeinandertreffen lassen kann. Sie befinden sich vorab in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort, das schafft wunderbare Möglichkeiten, sie in ihrem Umfeld zu erforschen. Deshalb ist auch ein Film wie La La Land gerade so beliebt, weil in ihm Vergangenheit und Gegenwart zusammenfallen.

STANDARD: Sie sind hervorragender Kenner der US-Filmgeschichte. Wohin entwickelt sich das amerikanische Kino?

Schamus: Entscheidender als das, was man sieht, ist das, was man nicht wahrnimmt. Nehmen wir die Oscarverleihung: Es gibt großartige Filme auch innerhalb des Studiosystems, mit einer politischen Aussage und mit Witz. Doch die Academy geht ihnen aus dem Weg. Ich liebe das Independentkino, aber es hat oft genug von Hollywood künstlerisch einen Tritt in den Hintern bekommen. Nur umgekehrt würde ich das auch gerne wieder einmal sehen. (Michael Pekler, 14.2.2017)