In der Welt von Disney hat Courgette nichts verloren: In der Tradition des Puppentrickfilms erzählt "Mein Leben als Zucchini" von der gar nicht kindlichen Sehnsucht, nicht allein auf der Welt zu sein.

Foto: Thimfilm

Wien – Ein Kinderheim außerhalb der Stadt sei ein Ort für jene, die von niemandem mehr geliebt werden. Das behauptet jedenfalls Simon, der Anführer mit dem knallroten Haarschopf. Hier leben die Ausgestoßenen und Abgeschobenen, und wenn so jemand wie der neunjährige Courgette auftaucht, dem außer seinem Spitznamen nichts geblieben ist als eine letzte Bierdose seiner alkoholsüchtigen Mutter, dann braucht es eine Weile, bis er von Simon akzeptiert wird. Courgette hat unabsichtlich den Tod der Mutter verschuldet. Seinen Vater besitzt er als eine Zeichnung, als Superhelden auf einem Drachen, den er aus dem Auto des freundlichen Polizisten heraussteigen lässt, der ihn zu Simon, Ahmed, Alice, Jujube und Béatrice bringt.

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Ein Kinderheim außerhalb der Stadt kann aber auch ein Ort sein, der den gängigen Erwartungen und Vorurteilen so gar nicht entspricht. Die Leiterin ist eine nette Dame mit schwarzem Dutt, es gibt einen hilfsbereiten Lehrer mit blitzblauer Rundbrille und Frau Rosy, die sich liebevoll um die Kinder kümmert. Und das haben diese bitter nötig, denn die Schicksale, die ihnen Mein Leben als Zucchini (Ma vie de courgette) zuschreibt, sind von Gewalt und Traumata ebenso gekennzeichnet wie von Armut und Abhängigkeit. Um das zu erkennen, genügen wenige Worte und Hinweise, und dennoch ist alles da.

Empathie, Distanz und Witz

Mein Leben als Zucchini basiert auf Gilles Paris' Roman Autobiographie d'une courgette (2001), doch Regisseur Claude Barras und die Autorin Céline Sciamma (Tomboy) haben sich für ihre Adaptierung gegen ein sozialrealistisches Jugenddrama entschieden, sondern der Welt des jungen Protagonisten – der in der Vorlage gar mit fein ziselierten Worten umzugehen weiß – ein völlig anderes Aussehen verliehen: Courgette ist Teil einer Stop-Motion-Welt geworden, in der die Figuren mit riesigen Rundköpfen sich durch eine ebenfalls von Hand animierte Filmlandschaft bewegen.

Das eröffnet diesem bereits oscarnominierten Film ungeahnte Möglichkeiten und erweist sich tatsächlich als Glücksfall: Denn der Empathie, die man für diese kulleräugigen Figuren entwickelt, steht dadurch eine nötige emotionale Distanz gegenüber, die durch den visuellen und sprachlichen Witz verstärkt wird. Die Geschichte einer sehr vorsichtigen Liebe – zu Courgette gesellt sich alsbald die zehnjährige Camille – entwickelt sich dabei zu einer über Zusammenhalt und Kameradschaft. So wie die Vögel vor dem Heim ihr Nest bauen, so bauen sich auch die Kinder weniger ein neues als ein erstes Zuhause.

Dass nicht zuletzt die Stop-Motion-Technik im Vergleich zur Computeranimation für dieses bemerkenswerte Ergebnis sorgt, liegt an der Reminiszenz an den klassischen Puppentrickfilm. Das Märchenhafte ist nämlich auch der alten Idee einer Belebung des Unbeweglichen geschuldet. Oder darin begründet, die Figuren wie in diesem Film ein neues Leben finden zu lassen. (Michael Pekler, 15.2.2017)