Laut Arbeitsprogramm von SPÖ und ÖVP sollen mehr Flüchtlinge freiwillig ausreisen oder abgeschoben werden.

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"Sehr besorgt" über Lage in Ungarn: Muiznieks.

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Im neuen Arbeitsprogramm der österreichischen Bundesregierung wird ein Schwerpunkt auf Abschiebungen von Asylwerbern gelegt, die rechtskräftig ausreisen sollen, dies aber nicht tun. Sie sollen in sogenannten Rückkehrzentren angehalten werden und nur nach Verlassen Österreichs auf freien Fuß kommen. Werden sie trotz Ausreiseauftrag wiederholt im Land angetroffen, sollen sie hohe Geldstrafen bezahlen müssen.

Der Menschenrechtskommisar des Europarats, dem Österreich als einer von 47 Staaten angehört, Nils Muiznieks, kritisiert diese Pläne. Die geplanten Rückkehrzentren wären Gefängnisse, Geldstrafen von 5.000 bis 15.000 "sehr unverhältnismäßig". Die Lage von Asylsuchenden in Ungarn schätzt er als besorgniserregend ein, am EU-Türkei-Abkommen zu Flüchtlingen übt er Kritik – und er warnt vor der geplanten Wiederaufnahme von Rückschieben laut der EU-weit geltenden Dublin-Verordnung nach Griechenland.

STANDARD: Die österreichische Regierung hat in ihrem neuen Arbeitsprogramm angekündigt, sogenannte Rückkehr- oder Ausreisezentren einzurichten. Aus diesen Zentren sollen abgelehnte, rechtskräftig ausgewiesene Flüchtlinge jederzeit aus Österreich ausreisen, sich aber nicht im Land frei bewegen dürfen. Ist das Haft?

Muiznieks: Wenn Menschen in Einrichtungen gebracht werden, aus denen sie nicht hinausdürfen, außer sie verlassen das Land, so ist das eindeutig Haft. Diese ist in Prinzip nicht illegal, die Staaten des Europarats sind aber verpflichtet, auf nicht unbedingt notwendigen Freiheitsentzug zu verzichten. Daher habe ich wiederholt die Wichtigkeit unterstrichen, Haftalternativen zu schaffen: etwa Anordnungen, sich nur in einem Ort aufzuhalten oder regelmäßige Meldeverpflichtungen mit individuellem Fall-Management. Diese Alternativen sind weit effektiver und kostengünstiger. Wenn Haft von Flüchtlingen oder Migranten unverzichtbar erscheint, so darf sie nur das allerletzte Mittel sein – und so kurz wie möglich. Bei Minderjährigen empfehle ich, überhaupt darauf zu verzichten.

STANDARD: Gibt es eine Dauer, ab der Freiheitsentzug bei Flüchtlingen oder Migranten menschenrechtswidrig wird?

Muiznieks: Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof des Europarats hat klargestellt, dass die Länge einer solchen Inhaftierung nicht das Maß überschreiten darf, das vernünftig betrachtet für den Zweck notwendig ist. Zu lange Haftdauer und Ungewissheit über deren Ende kann außerdem eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung laut der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellen. Trotz EU-Richtlinie, laut der Flüchtlinge und Migranten bis zu sechs Monate – in außergewöhnlichen Fällen bis zu 18 Monate – inhaftiert werden können, sind das die Verpflichtungen, die sich aus dem internationalen Menschenrecht ergeben.

STANDARD: Auf illegalen Aufenthalt sollen in Österreich künftig Geldstrafen zwischen 5000 und 15.000 Euro stehen, wenn ein ausreisepflichtiger Flüchtling oder Migrant das Land nicht innerhalb vorgesehener Frist verlässt. Was meinen Sie dazu?

Muiznieks: Derart hohe Geldstrafen für illegalen Aufenthalt sind sehr unverhältnismäßig. Es vermittelt der Gesellschaft eine negative Sichtweise auf Migration. Auch können derart hohe Geldstrafen Menschen Schaden zufügen, die – etwa weil sie keine Identitätsdokumente besitzen oder ihr Herkunftsland in ihrem Fall nicht kooperiert – objektiv Schwierigkeiten haben, zurückzukehren. Diese Menschen dürfen nicht in Mittellosigkeit gestürzt werden. Die Staaten des Europarats sind verpflichtet, auch die sozioökonomischen Menschenrechte von Migranten zu beachten.

STANDARD: Fakt ist, dass negativ beschiedene, ausreisepflichtige Flüchtlinge und Migranten häufig im Land bleiben. Sie allein für ihre Situation verantwortlich zu machen, erscheint inakzeptabel – ebenso jedoch der Umstand, dass Ausreisebescheide folgenlos bleiben. Hat der Europarat diesbezüglich Vorschläge?

Muiznieks: Staaten haben das Recht, Personen abzuschieben. Aber die Menschenrechtsnormen müssen dabei voll und ganz respektiert werden. Sollte eine Abschiebung de facto unmöglich sein oder sich die Unsicherheit über einen Verbleib zu sehr in die Länge ziehen, sollten die Betroffenen unter Beachtung ihrer Grundbedürfnisse und vollem Respekt ihrer Menschenrechte im Land bleiben können.

STANDARD: Vor kurzem haben Sie eine Erklärung gegen die zunehmende Inhaftierung von Asylwerbern in Europa veröffentlicht. Wo konkret sehen Sie solche Entwicklungen?

Muiznieks: In einer ganzen Reihe Europaratsstaaten. Unglücklicherweise sind derlei Praktiken recht häufig, und sie stehen in Konflikt mit den Menschenrechtsverpflichtungen.

STANDARD: Wie ist die Lage in Ungarn?

Muiznieks: Ich bin sehr besorgt, denn die umfassenden Gesetzesänderungen des vergangenen Jahres verunmöglichen es Flüchtlingen nahezu, in Ungarn Asyl zu erhalten. Asylsuchende und Migranten werden ungerechtfertigterweise kriminalisiert. Seit Juli 2016 gilt ein Gesetz, das Massenausweisungen von Migranten ermöglicht, die innerhalb von acht Kilometern ab der Grenze angetroffen werden. Seitdem an den Grenzen zu Serbien und Kroatien Stacheldrahtzäune gebaut wurden, gab es viele Berichte über Polizeigewalt gegen Asylsuchende. Nun startete die ungarische Regierung vergangenen Monat mit Vorbereitungen für die baldige Wiedereinführung von obligatorischer Haft für Migranten. Aus Menschenrechtssicht ist das sehr beunruhigend.

STANDARD: Wie ist die Lage in der Türkei, wo seit dem EU-Flüchtlingsabkommen viele Menschen aus dem Nahen Osten stranden?

Muiznieks: Die Türkei hat es geschafft, 2,8 Millionen Syrer aufzunehmen. Rund ein Zehntel von ihnen lebt in Einrichtungen der Regierung, einige davon habe ich besucht. Im Vergleich zur dortigen Ausstattung und Versorgung verblasst, was viele andere europäische Staaten zur Verfügung stellen. Außerhalb leben die Flüchtlinge unter weit härteren Bedingungen. Auch erschwert es ihnen das Abkommen mit der EU, in der Union um Schutz zu ersuchen. Es treibt sie auf die noch gefährlicheren Schlepperrouten aus Nordafrika. Dazu verringert die aktuelle Situation in der Türkei die Chancen der Flüchtlinge auf Integration in dem Land.

STANDARD: Die EU-Kommission hat die Wiederaufnahme von Rückschiebungen laut der EU-weiten Dublin-Verordnung nach Griechenland ab Mitte März angekündigt. Der Europäische Menschengerichtshof hatte sie vor mehreren Jahren als erstes Höchstgericht gestoppt. Hat sich die Menschenrechtslage in Griechenland inzwischen ausreichend verbessert?

Muiznieks: Absolut nicht. Im Gegenteil, das EU-Türkei-Abkommen und das Schließen der sogenannten Balkanroute haben das Land mit einer großen Zahl von Asylwerbern zurückgelassen, mit denen es derzeit nicht umzugehen imstande ist. Die europäischen Staaten sollten mehr Solidarität zeigen, etwa durch Beschleunigung der Aufnahme von Flüchtlinge aus dem Land im Rahmen der in der EU vereinbarten Relocation.

STANDARD: Ein anderes Thema: Der österreichische Innenminister Wolfgang Sobotka will Demonstrationen in vor allem Einkaufsstraßen per Verordnung untersagen. Er begründet das mit Umsatzrückgängen. Verstoßt der Plan gegen die Menschenrechte?

Muiznieks: Die Staaten können ins Demonstrationsrecht nicht nach Belieben eingreifen, sondern nur innerhalb streng definierter Kriterien. Denn die Versammlungsfreiheit spielt in demokratischen Gesellschaften eine lebenswichtige Rolle. Jede Einschränkung muss in Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention stehen, gesetzlich fixiert werden, einer dringenden Notwendigkeit entsprechend und verhältnismäßig zu dieser Notwendigkeit sein. (Irene Brickner, 15.2.2017)