Schwebender Eigensinn, der das Gewebe der Geschichte durchdringt: Birgit Birnbacher.

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Sie werden gerade erwachsen und hätten eine Zukunft. Die Geschichten, die Birgit Birnbacher in ihrem Debütroman Wir ohne Wal erzählt, handeln vom Leben junger Menschen. In allen diesen Geschichten steckt der Keim eines Anfangs, der nie wirklich zur Blüte gelangt. Das Potenzial der Zukunft erscheint am Horizont, will aber keine fassbare Gestalt annehmen. Und manchmal ist da eine Gestalt, die den Horizont nicht erhellt, sondern verstellt.

Dass Birnbacher ein Bouquet scheinbar autonomer Geschichten versammelt, kollidiert nur auf den ersten Blick mit dem Gattungsanspruch des Romans: Nach und nach erweist sich, dass diese Geschichten eine genaue soziale Topografie markieren. In ihrem Zentrum stehen desorientierte Schüler, antriebslose oder gescheiterte Studenten, Künstler am Rand des Prekariats, psychisch und physisch Versehrte, Behinderte, Ausgegrenzte, und sie alle bewegen sich in einem "perspektivischen Niemandsland", angezogen von einer "magnetischen Leere".

Empathie statt Befremden

Es gehört zu den Qualitäten des Romans, dass Birnbacher die Innenräume dieser Orientierungslosigkeit ausleuchtet und so Verständnis weckt für das zuweilen befremdliche Verhalten ihrer Akteure. Das Befremden macht einer nüchternen, taghellen Empathie Platz, die nicht auf Schuldzuschreibungen aus ist, sondern auf Einsichten und Erkenntnisse. Dabei kommt der Komposition des Romans entscheidende Bedeutung zu. Die Geschichten driften nicht auseinander, sondern sind auf kunstvolle Weise miteinander verschränkt.

Diese Verschränkung bringt mit sich, dass manche Ereignisse, Situationen und Figuren aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden, während andere bloß gemeinsam haben, dass sie um den gleichen blinden Fleck kreisen. Das eine wie das andere wirkt vorschnellen Einschätzungen und Beurteilungen entgegen, etabliert einen schwebenden Eigensinn, der das Gewebe der Geschichten durchdringt und festigt.

Mehr als ein Wal

Markantester Ausdruck dieses Eigensinns ist der Wal, auf den schon der Titel des Romans verweist. Es ist nicht das reale, tonnenschwere Tier, das da herbeizitiert wird, sondern ein stilisiertes Abbild des Wals, eine weiße Plane, die luftig und leicht über dem Schauplatz des Geschehens hängt. Die jungen Künstlerinnen, die sich das Abbild ausgedacht haben, bestehen darauf, dass ihre Installation "mehr" sei als ein Wal. Und in der Tat tritt zutage, dass das Kunsttier eine Projektionsfläche ist, der – je nach Blickwinkel – unterschiedliche Bedeutungen eingeschrieben werden.

Für das bewegungsunfähige Opfer eines Brandunfalls ist der Wal das einzige Stück Welt, das im Ausschnitt des Fensters erscheint, während er einer Selbstmörderin den letzten Impuls gibt, ein für alle Mal mit der Welt zu brechen: "Da ist noch dieses Weiss über mir, und es tröstet mich. Ich laufe schneller, sodass sich das Weiss von oben auch in mir verteilt. Sich über den Rest Angst legt, der längst taub ist, aber noch irgendwo kauert."

Dass der fliegende Wal zum mehrdeutigen Zeichen wird, entspricht der Intention der Künstlerinnen. Was Birnbacher einer von ihnen in den Mund legt, mag in einem auch die Poetik der Autorin kennzeichnen. Sie halte das umstandslose Benennen von Dingen "für einen Irrtum", heißt es da, ein Ding sei für sie immer schon "mehr Wort gewesen als ein Wort". Das "Unkommentierte" sei ihr lieber, "der Ausdruck durch etwas anderes. Eine Installation zum Beispiel, weiss und hoch oben ..."

Erzählung auf Umwegen

Der Wal gerät auf diese Weise zum Exempel eines poetischen Sprechens, dem der Roman Birnbachers erkennbar verpflichtet ist. Was der Text zu erzählen hat, erzählt er auf Umwegen. Dazu passt die verschränkte Ordnung der Geschichten, die Lücken und Leerstellen enthält, zugleich aber ausreichend Hinweise auf deren verborgenen Sinn liefert. Das kann Irritationen bewirken, wie alle Kunst, die nicht auf rasches, friktionsfreies Einverständnis zusteuert. Ratlos kommentiert der Vater die Kunstinstallation seiner Tochter: "das Weiss ist schön weiss."

Andererseits kann derlei irritierende Offenheit aber auch Energie freisetzen, die aufs Leben überspringt und ihm unverhofften Glanz verleiht. Es ist der Glanz poetischer Verheissung, die für Augenblicke jede Zukunft möglich macht. Birnbacher fasst diese Erfahrung ins Bild eines nächtlichen Spaziergangs, bei dem eine junge Frau und ein junger Mann die Beschränkungen des Alltags überwinden und zu einem exemplarischen Paar werden: "Später, als wir auf den Gehsteig hinausstolperten und aus der Ferne den von unten beleuchteten Wal anschauten, begann es zu schneien. Du hast die Hand ausgestreckt, als wären kein Fluss, keine paar tausend Meter, keine Stadt zwischen dir und dem Wal, als wäre er eine fallende Schneeflocke, zum Greifen nah vor unseren Gesichtern. So standen wir da in der Kälte, aber uns war heiß, deine rechte Hand in meiner, während deine linke den Wal von der Felswand pflückte." (Gerhard Melzer, 18.2.2017)