Martin Luther auf einem digitalen Gemälde der Künstlerin Dorothee Golz, namens "Herr Martin (im KHM Wien)", 128 x 100 cm.

Foto: Dorothee Golz

F. v. Bünau, H. Hückstädt (Hg.), "95 Anschläge. Thesen für die Zukunft". € 20,60 / 285 Seiten. S.-Fischer-Verlag 2017

Foto: S. Fischer

Juli Zeh
Das Gegenteil von Freiheit ist Gesundheit

Wer kein Jenseits kennt, muss im Diesseits alles richtig machen. Der säkulare Mensch arbeitet als Designer des eigenen Schicksals. Voraussetzung dafür, im Kampf ums hausgemachte Glück ein bestmögliches Ergebnis zu erzielen, ist: Gesundheit. "Gesundheit" meint – wie auch die WHO definiert – nicht nur die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit meint Störungsfreiheit, Leistungsfähigkeit, gesteigerte Normalität. Du sollst sein wie alle, nur besser! Dazu Schönheit und Jugend, also Funktionstüchtigkeit in jeder Hinsicht. In Bezug auf die Gesellschaft heißt Gesundheit: Sicherheit und Kontrollierbarkeit. Auf dass es dem Gesellschaftskörper gutgehe wie einem satten, frisch gewickelten Säugling.

Virus im Gesellschaftskörper

Gesundheit wird zur ersten Bürgerpflicht. Wir schulden sie nicht uns selbst, sondern dem System. Zur Begründung reicht eine simple Pervertierung des Solidaritätsgedankens: Wenn die Gesellschaft dem Einzelnen Hilfe in der Not garantiert, dann garantiert der Einzelne der Gesellschaft das Bemühen, diese Not zu vermeiden. Denn Not ist teuer. So lautet der neue Gesellschaftsvertrag. Der kranke oder dicke oder schwache oder rauchende oder keinen Sport treibende oder halb verrückte oder trinkende oder Kartoffelchips essende Mensch ist ein Virus im Gesellschaftskörper. Er wird benachteiligt, ausgegrenzt, degradiert. Bald wird er bestraft.

Längst hat sich der individuelle Lebensweg in einen ansteigenden Pfad beständiger Selbstoptimierung verwandelt. Der Staat leistet Unterstützung durch stetige Erhöhung des Schutzniveaus. Angesichts von Gesundheit als kollektivem Lebensziel wird alles zur Bedrohung: Essen, Genussmittel, Straßenverkehr, falsche Matratzen, Kinderspielzeug aus Plastik, Luftverschmutzung, Lärm, waghalsige Sportarten, Auslandsreisen, Computerspiele und Sonnenbaden. Das alles kann man überwachen und regulieren. Das perfekte Leben ist herstellbar, und es ist obligatorisch.

Das Recht auf Fehler

Den Bürger des 21. Jahrhunderts stört das nicht, denn er braucht seine Freiheit höchstens zum Aussuchen des richtigen Bio-Obst-Lieferanten. Aufmüpfigkeit oder Exzentrik sind ihm zuwider, es sind Störfälle im gesellschaftlichen Metabolismus. Der moderne Mensch liebt das Glatte und Reibungslose. Meinungsfreiheit begreift er als das Freisein von Meinungen. Er geht nicht auf Demos, sondern zum Stadtmarathon. In Wahrheit ist er kein Bürger, kein Freier, nicht Herr seiner selbst. Er hat die äußeren Fesseln abgeschüttelt, um sich zum Sklaven eines Prinzips zu machen.

Auf dem Weg zur totalen Effizienz werden wir alles verlieren. Das Recht zu straucheln, das Recht zu irren, das Recht auf Rausch, das Recht auf Fehler und Reue, Schmerz und Trauer, das Recht, uns selbst zu schaden, das Recht zu verfallen und zu sterben. Funktioniere!, ruft der kapitalistische Imperativ, und das Volk schreit: Ich will!

Na dann: À votre santé!

Robert Menasse
Die Überwindung der Nationalstaaten

Eine künftige Besiedelung des Mars halten mehr Menschen für realistisch als eine Welt ohne Nationalstaaten. Dem Menschen scheint alles möglich – außer es betrifft die Einlösung der Menschenrechte. In Hinblick auf die Frage, in welcher politischen Organisationsform das Menschenrecht, die Chancengleichheit aller Menschen, Wirklichkeit werden könne, setzt der Möglichkeitssinn der meisten aus. Nur aus Fantasielosigkeit und Geschichtsvergessenheit scheint der Nationalstaat immer noch Zukunft zu haben. Die Entstehung der Nationalstaaten in Europa, die Eroberung und Einigung ihrer Territorien, ihr Konkurrenzkampf um Ressourcen, kurz: Nationalistische Ideologien in der Praxis haben zu grauenhaften Kriegen und schließlich zu den größten Menschheitsverbrechen der Geschichte geführt. Ebendeshalb war in Europa nach 1945 die Überwindung der Nationalstaaten das zentrale Motiv jener, die das Europäische Einigungsprojekt begründeten. Was der Nationalstaat historisch leistete, war, eine Vielzahl von Kleinstaaten mit Gewalt zu einer je größeren politischen Einheit, letztlich zu einem gemeinsamen Markt zusammenzuschließen. Muss man wirklich argumentieren, dass dies nicht das Ende der politischen und wirtschaftlichen Geschichte sein kann?

Tatsächlich haben sich die nationalen Märkte in Europa längst zu einem größeren gemeinsamen Markt vereinigt, noch dazu auf friedliche Weise. Aber dieser europäische Markt ist nicht eingebettet in eine nachnationale europäische Demokratie. Durch die längst transnationalen Wertschöpfungsketten, Kapital- und Finanzströme ist Nationalökonomie zur Fiktion geworden, so wie auch die Möglichkeiten nationaler politischer Souveränität. Denn keine der großen politischen Herausforderungen, denen wir uns heute stellen müssen, können an nationalen Grenzen abgewehrt oder innerhalb von nationalen Grenzen souverän gelöst werden. Globalisierung ist ja nichts anderes als dies: die Sprengung aller nationalen Grenzen.

Solange die Vernetzung der Welt nicht in einer adäquaten nachnationalen politischen Organisation gestaltet wird, sondern die Welt in konkurrierende Nationen gespalten bleibt, wird es Wirtschaftskriege geben, Kriege um Ressourcen, wachsende Migrations- und Flüchtlingsbewegungen, ungerechte Verteilung und ein Ende des sozialen Friedens selbst in den privilegierten Staaten. Damit ist auch die nationale Demokratie am Ende. Sie kann wachsende Ungleichheit noch eine Zeitlang hilflos verwalten, aber sie kann ihr Prinzip, nämlich dass alle Menschen frei und gleich an Würde, Rechten und Chancen seien, nie und nimmer einlösen. Genau das aber muss der Anspruch eines Europa von morgen sein: die Verwirklichung des allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatzes für alle europäischen Bürger. Ohne gleiches Recht keine politische Einheit in Europa.

Die Gründer des Europäischen Projekts, das zur heutigen EU wurde, hatten aus historischen Erfahrungen, der Zerstörung der europäischen Zivilisation durch den Nationalismus, die Konsequenzen gezogen. Europa hätte daher in Hinblick auf eine bewusste nachnationale Entwicklung die größte Expertise. Doch diese Entwicklung ist ins Stocken geraten – durch den wieder wachsenden Eigensinn und Widerstand der Nationalstaaten. So kann die Gemeinschaft die Probleme noch nicht lösen, die die Nationen nicht mehr lösen können. Die gegenwärtigen Krisen sind die Symptome dieses unproduktiven Widerspruchs. Aber es ist ein Faktum, dass die Nationen immer schwächer werden. Sie werden untergehen, zunächst in Europa, und Platz machen für eine nachnationale europäische Republik, als Avantgarde auf dem Weg zu einer Weltbürgerunion. Es gilt, nicht die Souveränität der Nation zu verteidigen, sondern die Souveränität des Bürgers zu erringen.

Fantastisch? Ja, das wäre es. Vor allem aber: geschichtslogisch. Und realistischer als die Besiedelung des Mars.

Thea Dorn
Heute schreit er "Zumutung!"

Zwei Ahnherren hat das Abendland, das später zum "Westen" wurde: Prometheus und Jesus. Der eine stahl den Göttern das Feuer, um es den Menschen zu bringen, und wurde so zur Ikone aller Rebellion. Der andere befolgte Gottes Willen, ließ sich aus Menschenliebe ans Kreuz nageln und wurde so zur Ikone allen Erduldens. Ihre Dynamik, Schönheit, ja: Erhabenheit bezog die westliche Zivilisation daraus, dass sie sich nie entscheiden konnte, welchem ihrer beiden Ahnherren sie folgen sollte: demjenigen, der sie anstachelte, ihren Erfindergeist aufs Kräftigste anzuspannen und Werkzeuge zu erfinden, mit deren Hilfe es ihr gelang, sich mehr und mehr gegens Schicksal und seine Schläge zu immunisieren? Oder demjenigen, der predigte, dass der Mensch keine größere Sünde begehen könne, als seinen Eigenkräften zu vertrauen, und sich stattdessen der Gnade Gottes anvertrauen solle?

Auf den ersten Blick könnte man meinen, der hohle, zum Platzen geblähte Egoismus unserer Tage sei das Ergebnis davon, dass in diesem Wettstreit die Prometheischen seit den Tagen der Aufklärung einen Sieg nach dem anderen einfahren, während die Jesus-Anhänger bloß rührende Rückzugsgefechte führen. In Zeiten, in denen der Mensch von Jahrzehnt zu Jahrzehnt auftrumpfender beweist, was er alles vermag – Zum Mond fliegen! Bald schon zum Mars! Kinderlähmung besiegt! Bald auch den Krebs! Warum nicht gleich die Sterblichkeit? – , kämpft jede Lehre, die sagt: "Mensch, was bist du außer einem großen Nichts!", auf verlorengehendem Posten. Bei Aischylos wird Prometheus für seinen Feuerdiebstahl an den Kaukasus gekettet. Und selbstverständlich hebt der sogleich an, seine "schmähliche Fess'lung" zu verfluchen. Doch bald schon mischen sich leisere Töne ins Wutgeschäum, erkennt er, dass er dieses sein Verhängnis tragen muss – "so leicht" er kann. Und wenn Hermes ihm am Schluss ins Gesicht sagt: "Du wärest unerträglich, wenn du glücklich wärst", fällt dem Titanen nichts mehr außer "Weh mir!" ein.

Lässt sich aus diesem "Weh mir!" etwas lernen, obgleich kein Mensch, keine Gesellschaft in der Geschichte rückwärtswandern können? Ich denke, ja: Wenn der prometheische Geist des Sich-wichtig-Nehmens zur durchgängigen Alltagshaltung verkommt, sind unerträgliche Zeitgenossen das Resultat. Kindische Kleingeister, die Tag und Nacht die Reklamationsstelle anrufen, um sich zu beschweren, was ihnen das Leben wieder Unzumutbares vor die Füße geworfen hat. Verzogene Narzissten, deren Verzogenheit noch befeuert wird, wenn am anderen Ende der Leitung nur noch Rechtsanwälte und Sozialarbeiter sitzen, die sie darin bestärken, sich vom Schicksal bloß nichts bieten zu lassen. Auch ich möchte nicht, dass es kaltschnäuzige Hermesse sind, die uns in unseren Verzweiflungszuständen antworten. Aber wie schön wäre es, eine Stimme zu vernehmen, die uns sagen würde: "Herr, gib mir die Kraft, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Gelassenheit, das Unabänderliche zu ertragen und die Weisheit, zwischen diesen beiden Dingen die rechte Unterscheidung zu treffen."

(Juli Zeh, Robert Menasse, Thea Dorn, Album, 19.2.2017)