"Wollen wir in einer Welt leben, die den Einzelnen auf Schritt und Tritt bis ins Wohn- und Schlafzimmer überwacht?" Höchstrichter Gerhart Holzinger warnt vor dem totalen Überwachungsstaat.

Foto: Andy Urban

Bild nicht mehr verfügbar.

Die Regierung plant umfangreiche Maßnahmen zur Überwachung von Telefon, Internet, Autos und öffentlichen Plätzen. Verfassungsjuristen warnen vor einer Aufgabe der Freiheit.

Foto: APA / EPA / Soeren Stache

Gerhart Holzinger, Präsident des Verfassungsgerichtshofs (VfGH), warnt im STANDARD-Interview vor weitreichenden Maßnahmen zur Überwachung, wie sie im aktuellen Arbeitsprogramm der Regierung vorgesehen sind. Insbesondere die Pläne zur Überwachung der Kommunikationswege sorgen bei Holzinger für Irritation. Er verweist darauf, dass die sogenannte Vorratsdatenspeicherung bereits einmal vom Höchstgericht gekippt wurde. Es sei nicht zulässig, anlasslos und massenhaft Kommunikationsdaten von Bürgern zu speichern. An diesen Rahmen müsse sich die Regierung halten.

Auch andere Überwachungsmaßnahmen stoßen bei Holzinger auf Kritik. Es sei wichtig, die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit zu wahren. Man müsse sorgfältig überlegen, ob neue Eingriffe in die Freiheit der Bürger wirklich notwendig seien. Es zeichne einen liberalen Rechtsstaat aus, dass die Menschen ein gewisses Maß an Freiheit genießen.

STANDARD: Die Regierung hat ein umfangreiches Sicherheitspaket ausgearbeitet, das mehr Überwachung bringen soll. Wie viel Überwachung ist uns zumutbar?

Holzinger: Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit zu wahren ist wahrscheinlich die wichtigste Aufgabe, die ein Rechtsstaat hat, und von jeher schwierig. Es gibt ein Zitat von Benjamin Franklin: "Wer Freiheit für Sicherheit aufgibt, wird beides verlieren." Ich kann als Präsident des Verfassungsgerichtshofes nur warnend meine Stimme erheben: Man soll nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Sondern sich im Einzelfall überlegen, ob neue Eingriffe wirklich notwendig sind.

STANDARD: Geschieht das zu wenig?

Holzinger: Man muss sich fragen, ob nicht die konsequente Anwendung der bestehenden Gesetze ausreicht. Ein Beispiel: Wir haben vor einigen Jahren die sogenannte Vorratsdatenspeicherung aufgehoben. Da wurden massenhaft und anlasslos Verkehrsdaten, Telefon- und Internetdaten praktisch der gesamten Bevölkerung auf Vorrat gespeichert. Immer wieder wurde argumentiert, das diene der Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität. Wir haben uns von der Bundesregierung vorlegen lassen, wie oft im Jahr 2013 von der Ermächtigung Gebrauch gemacht wurde, auf die Vorratsdaten zuzugreifen, und welche Delikte es waren, die da verfolgt wurden. Es waren circa zwei- bis dreihundert Abfragen. Und die Anlassfälle Terrorismusverdacht oder organisierte Kriminalität konnte man an den Fingern einer Hand abzählen.

STANDARD: Ihre Schlussfolgerung?

Holzinger: Ich will nichts trivialisieren, jede strafbare Handlung ist zu verfolgen. Aber es zeigt, wie die Realität und das, was mitunter behauptet wird, auseinanderklaffen.

STANDARD: Die Regierung will die Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür wieder einführen.

Holzinger: Ich habe den Eindruck, dass es bei diesen Vorschlägen darum geht, den Menschen zu signalisieren: Wir unternehmen etwas. Zum Teil haben diese Maßnahmen eher Symbolcharakter. Die grauenvollen Terrorakte der jüngsten Vergangenheit zeigen, dass die Täter bei konsequenter Anwendung der derzeitigen Möglichkeiten an ihrem Verhalten hätten gehindert werden können, weil sie auf dem Radar der Sicherheitsbehörden gewesen sind.

STANDARD: Der EuGH hat zur Vorratsdatenspeicherung entschieden, dass Daten nur bei Vorliegen eines Verdachts auf strafbare Handlung gespeichert werden dürfen. Das schränkt den Spielraum der Regierung für Nachfolgeregelungen doch stark ein.

Holzinger: Wenn man eine neue Regelung zur Vorratsdatenspeicherung erlassen will, dann müsste man das vor diesem Rahmen schaffen, den wir aufgezeigt haben.

STANDARD: Der Innenminister argumentiert seinen Vorstoß mit dem Beispiel von Salafisten und Hasspredigern. Verdächtige würden mittlerweile ganz anders kommunizieren.

Holzinger: Das ist eine Einschätzung, die die Sicherheitsbehörden anzustellen haben. Der grundrechtliche Rahmen hat sich nicht verändert. Eines möchte ich an dieser Stelle aber schon festhalten: Es gibt derzeit Ermittlungen gegen Vereine, türkische Vereine etwa, deren Aktivitäten als problematisch eingestuft werden. Wir hatten das Problem mit islamischen Kindergärten, die so organisiert waren, dass das, was den Kindern dort vermittelt wurde, offenbar nicht unseren Vorstellungen einer freien, demokratischen Gesellschaft entspricht. Was mich dabei überrascht: dass man so lange zuschaut oder die Augen verschließt. Von den Behörden wurde lange Zeit nichts unternommen, das ist für mich unverständlich. Wenn das dann eskaliert, wird argumentiert, dass man mit den vorhandenen Instrumentarien nicht auskäme. Eine konsequente Anwendung der Gesetze würde aber vorbauen, dass erst gar keine Situationen entstehen, für die man dann vorgibt, neue Eingriffsmöglichkeiten zu brauchen.

STANDARD: Der Innenminister nannte Fäkalien vor seinem Haus als Beispiel, warum mehr Überwachung notwendig sei. Er selbst hatte eine Kamera im Garten installiert. Was sagt eine solche Argumentation aus?

Holzinger: Zum konkreten Beispiel möchte ich nichts sagen. Es ist völlig klar, wenn es eine totale Überwachung gäbe, würde die Zahl der kriminellen Handlungen reduziert werden. Aber die Frage ist: Wollen wir in einer Welt leben, die den Einzelnen auf Schritt und Tritt bis ins Wohn- und Schlafzimmer überwacht?

STANDARD: Das Gegenargument ist immer: Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten.

Holzinger: Diese Formel leidet unter einem fundamentalen Fehler: Dass die Menschen ein gewisses Maß an Freiheit genießen, zeichnet den liberalen Rechtsstaat aus. Damit verbunden ist, dass auch ein völlig unauffälliges Privatleben vor Überwachung geschützt werden muss. Ein Staat, der diese Freiheit nicht zugesteht, gleitet automatisch in eine Diktatur ab. In einem liberalen Rechtsstaat hat der Mensch einen Anspruch darauf, dass er nicht rechtfertigen muss, was er isst, was er trinkt, welche Bücher er liest oder wo er die Nacht verbringt.

STANDARD: Diese Ansicht scheint aber nicht populär zu sein. Viele Bürger scheint es nicht sonderlich zu stören, dass sie mehr überwacht werden.

Holzinger: Unpopulär – mag sein. Ich verstehe meine Rolle als die eines Menschen, der darauf hinweist, die Augen offen zu halten und sich nicht einlullen zu lassen. Und die Leute zu sensibilisieren dafür, dass Freiheit ein hohes Gut ist. Wenn wir dieses hohe Gut preisgeben, kann das zu Situationen führen, in denen wir es nur mit denselben blutigen Kämpfen, mit denen unsere Vorfahren sie erkämpft haben, wieder gewinnen.

STANDARD: Wenn die Bürger verunsichert sind, wäre es nicht die Aufgabe der Politik, zu beruhigen? Schließlich leben wir in einem der sichersten Länder der Welt?

Holzinger: Verglichen mit anderen Staaten ist die Sicherheitslage in Österreich eine sehr gute. Man muss kühlen Kopf bewahren. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, hat es nie gegeben, selbst in der Sowjetunion und im NS-Staat nicht, wo an jeder Ecke ein Spitzel stand.

STANDARD: Sind elektronische Fußfesseln für Gefährder zulässig?

Holzinger: Freiheitsbeschränkende Maßnahmen ohne konkreten Anhaltspunkt, dass jemand eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt, sind sicher unzulässig. Aber eine verfassungsrechtliche Beurteilung ist nur aufgrund eines ausformulierten Gesetzestextes möglich.

STANDARD: Im Regierungsprogramm sind sogenannte Rückkehrzentren vorgesehen, in denen abgelehnte Asylwerber, die das Land nicht wieder verlassen, festgehalten werden sollen. Ist es zulässig, diese Menschen einzusperren?

Holzinger: Für die Anhaltung von Menschen gilt in erster Linie das Grundrecht auf persönliche Freiheit. Vor dem Hintergrund dieser grundrechtlichen Regelung sind Gesetzesvorhaben zu beurteilen. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers ist diesbezüglich relativ eng.

STANDARD: Die Regierungsparteien möchten jetzt auch die Kompetenzen des Bundespräsidenten einschränken. Sind die Rechte des Bundespräsidenten überhaupt noch zeitgemäß?

Holzinger: Manches, was dem Bundespräsidenten eingeräumt wird, wie Gnadenbefugnisse oder die Ehelicherklärung von unehelichen Kindern, ist sicher nicht mehr zeitgemäß. Aber für mich stellt sich die Frage, ob das Abschaffen dieser Regelungen wirklich ein vordringliches Problem einer Verfassungsreform ist. Aus meiner Sicht gäbe es viel wichtigere Dinge, die man angehen sollte und deren Reformbedürftigkeit auch allgemein anerkannt wird. Nur passiert nichts.

STANDARD: Zum Beispiel?

Holzinger: Ganz klar: das Verhältnis zwischen Bund und Ländern. Die Finanzströme sind intransparent, es gibt Doppelgleisigkeiten und Kompetenzüberschneidungen, die erhebliche negative Konsequenzen haben.

STANDARD: Fehlt es der Regierung an Mut, an Eifer, das anzugehen?

Holzinger: Letztendlich geschieht in diesem Land das, was die Menschen wollen und bei der Wahl mit ihrer Stimme zum Ausdruck bringen. Ich halte nichts davon, nur die Politiker als Sündenböcke hinzustellen. Es wäre wünschenswert, dass sich auch die Wähler als die Verantwortlichen für diesen Staat fühlen. Verantwortung heißt, dass man bei der Wahl zum Ausdruck bringt, man möchte, dass das Problem angegangen wird. Das bedeutet, dass man diejenigen, die Reformen auch durchführen, nicht abstraft, sondern demokratisch stärkt. (Maria Sterkl, Michael Völker, 17.2.2017)