Die vorhersagende DNA-Analyse kann die äußerlichen Merkmale einer Person beschreiben. Ein EU-Projekt mit Innsbrucker Beteiligung will diese Methode bis 2021 standardisieren.

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Walther Parson von der Innsbrucker Gerichtsmedizin.

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Innsbruck – Im Jahr 1997 wurde die 16-jährige Schülerin Eva Blanco Puig nahe Madrid ermordet aufgefunden. Der Fall blieb bis 2015 ungelöst. Erst der experimentelle Einsatz einer neuen Technik, der prädiktiven oder vorhersagenden DNA-Analyse, führte zum Erfolg. Dazu nutzten die Ermittler Tatortspuren, um festzustellen, dass der Täter nordafrikanischer Herkunft sein muss. In der Folge wurden herkömmliche DNA-Tests an Freiwilligen – darunter zwei Brüder des mutmaßlichen Täters – durchgeführt. Wenig später klickten die Handschellen.

Die vorhersagende DNA-Analyse eröffnet Forensikern neue Möglichkeiten bei der Täterbeschreibung. An der Medizinischen Universität Innsbruck forscht ein zwölfköpfiges Team um den Biologen Walther Parson ab Mai 2017 im Rahmen des EU-Projektes Visage daran, mittels DNA-Spuren ein Phantombild zu erstellen. Damit könnten zahllose bislang ungelöste Fälle, zu denen es zwar DNA-Spuren, aber keine Verdächtigen gibt, neue Ermittlungsansätze erhalten. Bis 2021 wollen die insgesamt 13 am Projekt beteiligten europäischen Forschungseinrichtungen diese DNA-Analyse so weit entwickeln, dass sie standardisiert eingesetzt werden kann.

Um den grundlegenden Unterschied zur bereits angewandten beweisenden DNA-Analyse zu verstehen, muss man deren Entwicklung und Anwendung miteinbeziehen. Seit den 1990er-Jahren nutzt die Gerichtsmedizin spezifische Abschnitte der menschlichen DNA, um Personen zu identifizieren. Dazu werden Merkmalmuster im Erbgut analysiert, anhand deren Gewebe von zwei Personen eindeutig unterschieden werden können. Diese Merkmale sagen aber nichts über die Personen selbst aus, da sie in einem Bereich liegen, der als nicht codierende DNA bezeichnet wird.

Geringer Prozentsatz

Nur ein geringer Prozentsatz der menschlichen DNA enthält codierende Informationen, also den genetischen Bauplan, der uns ausmacht. Als die DNA-Analyse entwickelt wurde, wählte man dazu bewusst jene Merkmale aus, die nichts über den Menschen aussagen, die aber in jeder Zelle vorkommen. Daher enthält eine Speichelprobe dieselbe genetische Information wie eine Blutprobe. Und die statistische Wahrscheinlichkeit, dass sich dieses Merkmalmuster zufällig in der Bevölkerung wiederfindet, ist derart gering, dass eine Zuordnung zu einem Individuum möglich ist.

Obwohl sich nur rund 0,1 Prozent unserer DNA von Mensch zu Mensch unterscheiden, reicht dieser Bereich aus, um Personen zu identifizieren. "Man kann diese Übereinstimmung im Gegensatz zu einer Zeugenaussage oder einem Fingerabdruck statistisch bewerten. Darum ist dieser sogenannte DNA-Fingerabdruck zu einem so wichtigen und objektiven Instrument geworden", sagt Parson, Leiter des Forschungsschwerpunktes Forensische Molekularbiologie am Institut für Gerichtliche Medizin an der Med-Uni Innsbruck. Einzige Ausnahme sind eineiige Zwillinge, die über identische Merkmalmuster verfügen. Innsbrucks Gerichtsmediziner führen jährlich rund 40.000 solcher, mittlerweile weitgehend automatisierter, DNA-Analysen durch. Die Ergebnisse werden in der Österreichischen DNA-Datenbank des Innenministeriums gespeichert. Österreich war 1997 das dritte Land in Europa, das eine solche Datenbank angelegt hat. Damit können biologische Tatortspuren auch Jahre später noch neue Ermittlungsansätze liefern: "Nämlich dann, wenn man plötzlich das Tatort-DNA-Profil einer Person zuordnen kann, von der man im Zuge erkennungsdienstlicher Maßnahmen ein Merkmalmuster in die Datenbank gestellt hat. So etwas passiert in Österreich rund 100-mal pro Woche." Wobei dies die Person nicht zum Täter, sondern lediglich zum Spurenverursacher macht. Die Polizei muss somit neu ermitteln.

Im Unterschied dazu geht man bei der vorhersagenden DNA-Analyse der Frage nach, ob der am Tatort gefundenen biologischen Spur weitere erkennungsdienstliche Merkmale entlockt werden können. Konkret sind das Augen-, Haut- und Haarfarbe, das Alter sowie die geografische Herkunft einer Person. Man will also ein Phantombild eines Verdächtigen auf Basis gefundener DNA-Spuren erstellen.

"Doch zuerst müssen wir untersuchen, ob es wissenschaftlich Sinn macht, diese Methode anzuwenden", erklärt Parson die Schwierigkeiten. Denn die statistische Aussagekraft ist bei weitem nicht mit jener des etablierten DNA-Beweises zu vergleichen. Dort liegt sie in aller Regel bei über 99,9 Prozent, während die Ergebnisse der prädiktiven Analyse bei nur 95 Prozent oder darunter liegen. Diese Fehlerquote könnte sich zwar durch neue Verfahren bei der vorhersagenden Analyse leicht verbessern, dennoch wird die Aussagekraft nie an jene des DNA-Beweises heranreichen.

Die Gründe dafür liegen in der Epigenetik, erklärt Parson: "Epigenetische Merkmale und andere Faktoren können das äußere Erscheinungsbild beeinflussen. Ich trage in meiner DNA zum Beispiel die Information, dass meine Haare dunkelbraun sind. Tatsächlich sind sie mittlerweile aber grau." Daher verbinden die Forscher im Rahmen des Visage-Projektes die äußerlichen Merkmale über komplexe mathematische Modelle mit dem chronologischen Alter.

Die Rolle der Innsbrucker konzentriert sich auf die Optimierung der molekularen Werkzeuge: "Wir sind das Technologiezentrum des Projektes." Parson und sein Team arbeiten daran, möglichst viele aussagekräftige Merkmale in einem Analyseschritt gleichzeitig auswertbar zu machen, um damit die erforderliche DNA-Menge deutlich zu reduzieren.

Derzeit führen bereits Großbritannien und die Niederlande prädiktive Analysen durch. Allerdings bedienen sie sich dabei unterschiedlicher und noch wenig ausgereifter Methoden.

Neben den technischen und mathematischen Herausforderungen spielen auch die rechtliche und die ethische Komponente eine wichtige Rolle. Derzeit ist es in Österreich nicht erlaubt, im Rahmen kriminalistischer Analysen Merkmale zu untersuchen, die in der codierenden DNA liegen. Parson und sein Team können daher nur in Abstimmung mit dem Ethikrat Proben von Freiwilligen analysieren. Um die neue Analysemethode routinemäßig und im großen Maßstab anzuwenden, bedarf es daher rechtlicher Rahmenbedingungen, weil ein Teil der dazu verwendeten DNA eben aus dem codierenden Bereich stammt.

Haarfarbe von Richard III.

Abseits der kriminalistischen Anwendung bietet die vorhersagende DNA-Analyse auch für Historiker ganz neue Möglichkeiten. So kann damit das Aussehen längst verstorbener Persönlichkeiten rekonstruiert werden. Dem Konsortialführer des Visage-Projektes, Manfred Kayser von der Erasmus Medical University Rotterdam, gelang es zusammen mit Kollegen, Augen- und Haarfarbe von König Richard III. allein anhand von DNA-Material seines Skelettes herauszufinden. Den größten Nutzen des Visage-Projektes sieht Parson aber in der Aufarbeitung ungelöster Kriminalfälle: "Dort, wo es derzeit keinerlei Ermittlungsansatz gibt, könnten wir neue Hoffnung geben." (Steffen Arora, 26.2.2017)