Geisterhaftes Schicksal: Für die spätere Regisseurin und Autorin Mai Zetterling bedeutete ihre Rolle in Sjöbergs "Raserei" den internationalen Durchbruch.

Foto: Filmmuseum

Der Theatermann hinter der Kamera: Alf Sjöberg (1903-1980).

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Wien – Von den unzähligen Namen, die die Filmgeschichte hinter sich gelassen hat, ist dieser ein besonders bemerkenswerter. Nicht weil er eine Entdeckung wäre, derer man sich als Filmhistoriker rühmen könnte, sondern weil er zeigt, wie eine solche Geschichte geschrieben wird. Das hat im europäischen Kino sehr oft mit den Gegnern im eigenen Land zu tun, das stets nur wenige Namen hat gelten lassen. So konnte es auch kommen, dass der seinige – bedrängt von den schwedischen Stummfilmgrößen Victor Sjöström und Mauritz Stiller sowie dem bis heute bekanntesten Filmemacher des Landes, Ingmar Bergman – praktisch in Vergessenheit geriet: Alf Sjöberg.

Das konnten selbst zwei Goldene Palmen beim Festival von Cannes mit dem Liebesdrama Iris und der Leutnant (1946) und der Strindberg-Verfilmung Fräulein Julie (1951) nicht verhindern. Fast fünfzig Jahre arbeitete Sjöberg am Dramaten, dem ehrwürdigen Königlichen Dramatischen Theater in Stockholm, inszenierte Shakespeare, Ibsen und Brecht, und selbstverständlich spiegeln seine filmischen Arbeiten diese Erfahrung und diesen Einfluss wider.

Herausforderung gesucht

Doch Sjöberg suchte immer die stilistische Herausforderung für die Leinwand, von der expressionistischen Großaufnahme über die Ästhetik der russischen Schule bis zum amerikanischen Film noir schien er sämtliche Mittel ausschöpfen zu wollen.

Sjöberg war ein Regisseur des Schicksals. Nicht eines solchen, das einen als Zufall ereilt, sondern jenes Schicksals, dem man aus verschiedensten Gründen – die vielleicht alle auf einen einzigen hinauslaufen – nicht entkommen kann. Das Bezeichnende seiner knapp zwanzig Arbeiten, von denen das Filmmuseum in seiner Retrospektive acht präsentiert, ist dabei der bemerkenswerte Umstand, dass seine Figuren den ihnen vorgegebenen Weg offenen Auges beschreiten.

Literarische Vorlagen

Das ist nicht zuletzt angesichts der literarischen Vorlagen, auf die Sjöberg für seine meist von ihm selbst geschriebenen Adaptionen zurückgriff – von Strindberg (Karin Mansdotter, 1954) über Pär Lagerkvist (Barabbas, 1953) bis Bengt Anderberg (Wilde Vögel, 1955) -, bezeichnend: Sie streiten, schlagen um sich und sinken zu Boden, doch im Grunde gehen sie ihrer Bestimmung entgegen. Doch das ist für Sjöberg keine Frage eines religiösen Fatalismus, sondern eines individuellen Kampfes um Selbstbestimmung.

In Raserei (1944) treffen ein Student und sein sadistischer Lateinlehrer, genannt Caligula, aufeinander. Dazwischen findet sich eine junge Frau namens Bertha (Mai Zetterling), die in dieser melodramatischen Parabel auf den Faschismus der männlichen und institutionellen Macht zum Opfer fällt. Es ist das erste Drehbuch von Ingmar Bergman, geschrieben zwei Jahre vor seinem Regiedebüt, und wie als Vorzeichen eröffnet der Film mit dem Credit des späteren Meisterregisseurs.

Geisterhafte Gefängnisse

Doch es ist Sjöberg, der jede einzelne Szene zu einer Konfrontation werden lässt: zwischen der aus proletarischen Verhältnissen stammenden Verkäuferin und dem großbürgerlichen Studenten, zwischen den weiten Gängen des Schulgebäudes und der engen Dachwohnung der Frau, zwischen den kunstvoll ausgeleuchteten Gesichtern und den riesigen Schatten, die sich geisterhaft auf den Wänden abzeichnen. Wenn Barabbas (Ulf Palme) wiederum aus dem Dunkel des Hintergrunds vor das Kreuz tritt, wird er von der Lichtgestalt Jesu nicht erleuchtet, sondern geblendet.

Sjöbergs filmisches Schaffen ist von diesen Gegensätzen geprägt. Das Aufbegehren seiner Figuren gegen eine restriktive gesellschaftliche Ordnung, und sei es in Form einer Amour fou wie in Fräulein Julie, geht stets mit dem Versuch einher, aus diesen Gefängnissen auszubrechen. Wenn zu Beginn die großartige Anita Björk als Tochter des Grafen ihre Bediensteten beim ausgelassenen Fest beobachtet, ist ihr Schicksal in der Johannisnacht bereits vorgezeichnet: Wie der Vogel auf dem Fensterbrett neben ihr sitzt auch sie in einem goldenen Käfig, den zu öffnen ihr Untergang sein wird.

Als Alf Sjöberg 1980 bei einem Autounfall in Stockholm starb, war er auf dem Weg zum Dramaten. Auf einem Heimweg. (Michael Pekler, 23.2.2017)