"Erwarte das Unerwartete" als Leitsatz für eine immerwährende Selbsterneuerung im dauernden Wechselmodus von Handeln und Denken – der interne Audi-Berater für Veränderung, Hans-Joachim Gergs sieht das klassische das Change Management am Ende.

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STANDARD: Quintessenz Ihrer Forschungsarbeiten ist, dass jedes Unternehmen eher früher denn später damit konfrontiert wird, sich auf eine Art zu verändern, für die es kein Vorbild gibt, will es nicht sein Scheitern riskieren. Also raten Sie, sich rechtzeitig mit der Kunst der kontinuierlichen Selbsterneuerung zu befassen. Gibt es Zahlen zur Lebensdauer von Unternehmen?

Gergs: Wir haben in den letzten Jahren gesehen, wie schnell selbst große Unternehmen wie Kodak, Nokia und Blackberry oder AEG von Wettbewerbern und Veränderungen in ihren Branchen verdrängt werden können. Richard Foster von der Yale School of Management analysierte die im Standard & Poor's 500 vertretenen 500 größten US-Konzerne. Er stellte fest, dass die Unternehmen vor 100 Jahren im Schnitt 67 Jahre alt wurden, 2015 waren es seinen Analysen zufolge nur noch 15 Jahre. Etwas langlebiger sind die Unternehmen in Europa. Aber diese Entwicklung verdeutlicht: Erfolg war noch nie so unsicher wie heute. Insbesondere die Digitalisierung der Wirtschaft wird die Geschwindigkeit des Wandels weiter erhöhen und die Spielregeln des Wettbewerbs noch einmal grundlegend verändern.

STANDARD: Daraus folgt ...

Gergs: ... dass die Fähigkeit, sich schnell auf veränderte Anforderungen einzustellen, zur wichtigsten Kernkompetenz von Unternehmen wird. Neuesten wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge sind diejenigen Unternehmen langfristig erfolgreich, die über die Fähigkeit verfügen, sich kontinuierlich neu zu erfinden. Das "klassische" Change-Management, das in seiner Grundlogik reaktiv ist, stößt damit an seine Grenzen. "Change the change management" lautet daher die Devise. Mehr und mehr entsteht die Notwendigkeit, radikale Transformationen zu vermeiden und Veränderungsprozesse frühzeitig einzuleiten, um in den guten Jahren die vorhandenen Ressourcen zu nutzen und die Organisation vorausschauend auf die Zukunft vorzubereiten.

STANDARD: Wo liegt dabei die Herausforderung?

Gergs: In der vorausschauenden Gestaltung von Veränderungsprozessen, denn die meisten Unternehmen sind nicht für vorausschauende Erneuerung gebaut. Die von den Pionieren des Managements, Taylor, Sloan, Ford etc., entwickelten Theorien und Konzepte, die bis heute das Denken im Management bestimmen, sind alle auf Stabilisierung und Standardisierung ausgerichtet. Von daher ist es auch nicht erstaunlich, dass die Geschichte der meisten Unternehmen lange Zeiträume aufweist, in denen es nur zu geringfügigen Veränderungen kam, unterbrochen von wenigen Phasen tiefgreifender Veränderung, die meist durch eine Krise ausgelöst wurden.

STANDARD: Deshalb nun also kontinuierliche Selbsterneuerung, die Sie aufgrund Ihrer Forschungsarbeiten wie charakterisieren?

Gergs: Charakteristisch für die kontinuierliche Selbsterneuerung ist erstens: Wandel beziehungsweise Veränderung ist fest in die Organisationsprozesse integriert und verläuft fortlaufend und vorausschauend. Erneuerung wird also nicht erst dann angestoßen, wenn das Unternehmen erkennen muss, dass es hinter der Entwicklung herhinkt oder bereits in einer Krise steckt. Zweitens: Der Fokus liegt nicht auf der Optimierung des Bestehenden, sondern zielt auf das grundlegende Hinterfragen und Erneuern des Geschäftsmodells oder der Kultur eines Unternehmens. Drittens: Veränderungsimpulse werden nicht nur vom Management, sondern auch von den Mitarbeitern gesetzt.

STANDARD: Wie wird aus der erkannten Notwendigkeit gelebte Wirklichkeit?

Gergs: Diese Frage hat mich in einem zwölfjährigen Forschungsprojekt beschäftigt, in dem ich zehn Unternehmen intensiv begleitet habe. Alle diese Firmen durchliefen einen tiefgreifenden Wandel ihres Geschäftsmodells, ohne dass sie durch eine Krise dazu gezwungen waren. Auf der Grundlage dieser Fallstudien konnte ich herausarbeiten, dass kontinuierliche Selbsterneuerung nach völlig anderen Regeln und Grundsätzen funktioniert als das klassische Change-Management. Insgesamt ließen sich acht Prinzipien identifizieren, nach denen die von mir untersuchten Unternehmen bewusst oder unbewusst Veränderungsprozesse gestalten. Sie habe ich zu einem zyklischen Modell der Erneuerungsfähigkeit zusammengefasst: Selbstreflexion stärken. Kommunikation und Vernetzung intensivieren. Vielfalt zulassen und Paradoxien pflegen. Bezweifeln und vergessen. Erkunden. Experimentieren. Fehler und Feedbackkultur etablieren. Ausdauer und Denken in Kreisen.

STANDARD: Das lässt auf einen intensiven innerbetrieblichen Kommunikationsprozess schließen.

Gergs: Ohne den geht es nicht. Hier lässt sich viel von der Familie der Medici lernen. Die Medici erkannten bereits im 15. Jahrhundert den Wert des Netzwerkens und brachten Menschen aus unterschiedlichsten Bereichen zusammen: Wissenschafter, Schriftsteller, Philosophen, Architekten und Künstler. Als diese Persönlichkeiten aufeinandertrafen, entwickelten sie neue Ideen, die zusammengenommen die Renaissance begründeten, eine der innovativsten Epochen der Menschheit. Ähnlich machen dies Führungskräfte in den von mir untersuchten Unternehmen. Eine ihrer wichtigsten Rollen sehen sie im Design des betrieblichen Kommunikationsraums. Sie mischen unterschiedliches Know-how im Unternehmen immer wieder neu. Zum Beispiel indem sie durch Abteilungshospitanzen frische Schnittstellen bilden, bereichsübergreifende Teams aufstellen oder die Beschäftigten in Großgruppenkonferenzen vernetzen. Erfahrungsgemäß fördern interne und externe Kommunikationsplattformen den Wissens- und Erfahrungsaustausch und erhöhen damit die Erneuerungsfähigkeit.

STANDARD: Die Führenden müssen ein neues Rollenverständnis leben?

Gergs: Die Erfahrungen aus meinem Forschungsprojekt verweisen auf eine völlig neue Rolle beziehungsweise ein völlig neues Rollenverständnis der Führung im Prozess der kontinuierlichen Erneuerung. Es ist weniger die "heldenhafte" Führung, sondern mehr die Führung, die es als ihre Aufgabe ansieht, im Unternehmen eine Infrastruktur der Veränderung aufzubauen. Sie begreifen sich eher als Organisationsdesigner oder Sozialarchitekten für Innovation und Lernen und streben aus dieser Einstellung heraus den Wandel als festen Bestandteil des Betriebssystems an, als notwendig gewordene Daueraufgabe. In diesem ständigen Ringen um Erneuerung liegt die neue und eigentliche Herausforderung für das Management. Erneuerungsfähige Unternehmen "lieben" aus dem im Unternehmen herrschenden Geist heraus den Wandel geradezu, hinterfragen stetig das Bestehende und begeben sich ohne Not auf den Weg ins Unbekannte. Aufgabe des Managements ist es, diese kreative Spannung im Unternehmen dauerhaft aufrechtzuerhalten.

STANDARD: Welches Handwerkszeug hilft ihm dabei?

Gergs: Es gilt der Satz: "A fool with a tool is still a fool." Wenn das Mindset, wenn die gesamtbetriebliche Denkweise nicht stimmt oder die kulturellen Elemente nicht gelebt werden, laufen auch die schönsten Werkzeuge oder Methoden ins Leere. Der Schlüssel zum Ganzen ist die geistige Haltung des Managements. Dennoch sind Methoden hilfreich, wie zum Beispiel Learning-Journeys, Zukunftskonferenzen, Führungs- und Organisationsexperimente oder auch Methoden zur Verbesserung der Feedbackkultur, wie zum Beispiel After-Action-Reviews. Ferner erfordern die neuen Technologien mehr laterale Kommunikation, wodurch die Bedeutung von Großgruppenmethoden steigt. Sie stellen Vernetzung her, auch über die Organisationsgrenzen hinaus. In diesem Zusammenhang nimmt auch die Online-Kommunikation über Social Communities stark an Bedeutung zu, ohne dass die Face-to-Face-Kommunikation grundsätzlich an Bedeutung verliert.

STANDARD: Wie lautet das Motto kontinuierlicher betrieblicher Selbsterneuerung?

Gergs: "Expect the unexpected!" Wenn Sie sich allein die drei Prinzipien "Selbstreflexion stärken", "Bezweifeln und vergessen" und "Erkunden" vor Augen halten, dann wird deutlich, dass erneuerungsfähige Unternehmen sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie den Blick immer weit offen halten. Sie sind achtsam und tun alles, um ständig Veränderungen und Chancen in ihrem Umfeld wahrzunehmen. Dabei gehen sie experimentierend vor. Unter dem Motto "Expect the unexpected" erlangen Unternehmen schneller Klarheit über das, was sich tut, und damit auch über die Chancen in ihrem Umfeld. Genau hier liegt der Unterschied zum klassischen Change-Management. Während im linear-kausalen Modell strikt zwischen erst denken und dann handeln getrennt wird, wechseln Unternehmen mit der Fähigkeit zur kontinuierlichen Selbsterneuerung permanent zwischen Denken und Handeln. (Hartmut Volk, 27.2.2017)