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Für schulische Inklusion behinderter Kinder gebe es keine Grenze, sagt Georg Feuser. Das System setze Grenzen. Dabei würden vom gemeinsamen Lernen alle Kinder, auch Hochbegabte, profitieren.

dpa / Uwe Anspach

"Wenn das System auf Inklusion umgestellt ist, wird es nicht teurer als das jetzt laufende", sagt Erziehungswissenschafter Georg Feuser. Das hätten Berechnungen für das Inklusionsprojekt in Bremen gezeigt.

Foto: privat

STANDARD: Laut der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006 (Österreich ratifizierte sie 2007) muss ein "inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen" gewährleistet sein. Bedeutet das, Sonderschulen müssen komplett abgeschafft werden? Nicht alle interpretieren das so.

Feuser: Ja, aus meiner Sicht muss das in aller Deutlichkeit so gesehen werden. Damit ist ein nicht beugbares Menschenrecht bezeugt, und das bedeutet in der Konsequenz eine totale Aufgabe des Sonderschulsystems, sodass diese Menschen unter uns und mit uns leben. Das bedingt natürlich, dass man die regulären Systeme, in denen sie bisher ausgegrenzt sind, so umstrukturiert, dass sie allen – Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen – gerecht werden.

STANDARD: Täuscht der Eindruck, dass das Thema Inklusion vor allem an die Schule delegiert wird?

Feuser: Nein, das Bildungssystem hat ja eine Schlüsselfunktion für die ersten zwei Jahrzehnte der menschlichen Entwicklung. Damit sind Kindergärten und Schulsystem, aufsteigend bis zur Frage von Berufs- und Hochschulbildung, besonders gefordert, sich für Menschen mit Beeinträchtigungen zu öffnen. Leider wird immer nur die Forderung gesehen, dass nun Menschen mit Beeinträchtigungen, Behinderungen oder Migrationshintergrund ins Regelsystem kommen, aber nicht, dass man den sogenannten nichtbehinderten Kindern durch den Ausschluss dieser Menschen eine wichtige Möglichkeit der Persönlichkeitsentwicklung nimmt. Man grenzt ja nicht nur die Behinderten aus, sondern auch die Nichtbehinderten von den Behinderten, und das widerspricht einem demokratischen System völlig.

STANDARD: Inklusion ist also eine demokratiepolitische Notwendigkeit?

Feuser: Ja, als Maßnahme, die versucht, die Inbalance, die Ungerechtigkeit in diesem System auszugleichen im Sinne der anerkennungsbasierten Gleichheit aller Menschen in ihrer individuellen Situation. Es gibt nun, verdammt, keinen Menschen, der wie der andere ist, jeder Mensch ist einmalig, den gibt's nur in der Situation und so wie er lebt, darum ist das für mich politisch gesehen grundsätzlich ein Demokratieproblem.

STANDARD: Sie selbst haben in den 1980er-Jahren Inklusionsschulversuche in Bremen durchgeführt. Welche Erfahrungen haben Sie damals damit gemacht?

Feuser: Damals gab es den Begriff Inklusion noch nicht, aber wir haben den Integrationsbegriff schon damals so praktiziert: Jedes Kind hat – unabhängig von der Art oder dem Schweregrad seiner Beeinträchtigung – wie jedes andere Kind auch das Recht, dort, wo es wohnt, in den Kindergarten oder in die Schule zu gehen. Die Besonderheit in Bremen war, dass wir eben absolut keinen Ausschluss hatten, selbst Kinder, die über Sonden ernährt werden mussten, oder Kinder im Wachkoma nach schweren Ertrinkungs- oder Verkehrsunfällen waren selbstverständlich dabei. Ich habe zum Teil heute noch Kontakt mit diesen Schülern, und wir konnten feststellen, dass der Lernzuwachs aller jede meiner positiven Erwartungen übertroffen hat. Ich schäme mich heute, es negativer eingeschätzt zu haben, als es sich entwickelt hat. So gesehen haben wir im deutschsprachigen Raum bei allem Gerede über Inklusion bis heute kein so weitgehendes System, wie wir es in Bremen von 1980 bis 1995 praktiziert haben.

STANDARD: Warum ist es denn im deutschsprachigen Raum so besonders schwierig, Inklusion zu realisieren bzw. warum sind da andere Länder wesentlich weiter?

Feuser: Eine zentrale Erklärung, die mir bei einem Besuch in Norwegen wieder aufgefallen ist, ist, dass wir in Deutschland und Österreich doch noch sehr stark ein rassistisch-faschistisches Denken in unseren Köpfen haben, dass eben ein Mensch als solcher in sich und aus sich heraus defekt sei. Wir haben diese Menschen im Hitler-Faschismus systematisch ermordet. Diese Aberkennung von Menschenwürde aufgrund einer Behinderung ist tief im kollektiven Unbewussten verankert. Die damit verbundenen Ängste sind mobilisierbar. Und, nicht zu unterschätzen: Wir sind in einem Wirtschaftssystem, das den Wert des Menschen nach seiner Nutzbarkeit sieht. Bildung ist eine Investition in die spätere Nützlichkeit eines Menschen zur Erhaltung unserer Wirtschaft und Kultur, und man investiert nur in die, die versprechen, es über ihre spätere gesellschaftliche Tätigkeit wieder an die Gesellschaft, an den Staat zurückzuzahlen. Diese Art kapitalistisches Wirtschaftssystem und die historische Bedingung der Vernichtung sogenannten "lebensunwerten" Lebens wirken da zusammen – und wir haben nirgendwo weltweit eine so frühe und tiefgreifende Selektion von Kinder wie im deutschsprachigen Raum.

STANDARD: Gibt es für die Idee der Inklusion auch eine Grenze?

Feuser: Nein, diese Grenze gibt es nicht. Die gibt es nur im System, das nicht bereit ist, sich dem zu öffnen und die dazu erforderlichen Qualifikationen anzueignen bzw. in der Lehrerausbildung auch anzubieten. Ich habe mein Leben lang mit Menschen gearbeitet, die als austherapiert, allgemeingefährlich oder selbstgefährdend galten oder über Jahrzehnte hospitalisiert waren, und weiß, es gibt heute entwickelte Konzepte in der Pädagogik, in der Didaktik, aber auch in therapeutischen Kontexten, auch mit extrem schwer beeinträchtigten oder tiefgreifend gestörten Menschen zu arbeiten.

STANDARD: Genügend Ressourcen und Geld vorausgesetzt.

Feuser: Das ist richtig, aber wir haben das für den Stadtstaat Bremen durchrechnen lassen: Wenn das System auf Inklusion umgestellt ist, wird es nicht teurer als das jetzt laufende. Natürlich braucht der Übergang ergänzende Ressourcen. In der Wirtschaft ist das selbstverständlich, dass man in ein neues Produkt erst mal investieren muss. In der Pädagogik oder in therapeutischen Kontexten ist das nicht anders. Da muss investiert werden, bis das System umgestellt ist, dann wird es sich tragen. Abgesehen davon, dass alle Beteiligten, gerade auch Schnelllerner und Hochbegabte, davon profitieren. Inklusion ist keine Goodwill-Sache für Behinderte.

STANDARD: Was sagen Sie Eltern nichtbehinderter Kinder, die fürchten, ihre Kinder würden in inklusiven Schulen weniger lernen?

Feuser: Diese Angst brauchen sie nicht haben. Das belegen auch internationale Studien. Weltweit ist kein schulisches Reformvorhaben besser untersucht als die Frage der Inklusion. Man könnte sagen, wenn's ganz schlecht ausgeht, weil etwa Ausbildungsvoraussetzungen fehlen, dann lernen die Kinder immer noch mehr durch die Sozialdynamik, die entsteht, wenn sie in solchen Räumen miteinander lernen oder wenn man sich endlich bemüht, jahrgangsübergreifend in Mehrstufenklassen zu unterrichten. So wie das System jetzt in seiner Selektivität läuft, vernichten wir Potenziale.

STANDARD: Und was entgegnen Sie Eltern behinderter Kinder, die sagen: "Wir fürchten uns davor, dass unsere Kinder in einer ,inklusiven' Schule unter die Räder kommen, gemobbt werden ...", die für ihre Kinder einen "Schutzraum" – eben eine Sonderschule – möchten?

Feuser: Ich kann diese Eltern verstehen. Sie sind primär daran interessiert, dass es ihrem Kind gut geht und es Chancen hat. Das sehen sie erst mal nur in dieser Form mit Sonderschulen gegeben, weil sie selber kein anderes System erlebt haben. Aber dass das für alle noch positiver ausgehen kann, wenn man es verändert – dafür müssen wir die Eltern gewinnen. (Lisa Nimmervoll, 27.2.2017)