Ich oder das Chaos. So heißt die Formel, mit der Tayyip Erdoğan nun durch die Türkei ziehen wird und gern auch durch Sporthallen in Deutschland, Österreich und Frankreich auf Stimmenfang für seine Erdoğan-Verfassung gehen würde, ließe man ihn denn. Über die Drohformel des Populisten spötteln so manche türkische Wähler: Und jetzt, mit Erdoğan, haben wir also Ordnung und Frieden?

Knapp sieben Wochen sind es noch bis zum Volksentscheid über den Systemwechsel in der Türkei – von der halb zerstörten parlamentarischen Demokratie zum Präsidentenstaat für Tayyip Erdoğan. Kein Argument scheint dafür hohl genug, keine öffentlich hinausgeblasene Behauptung zu vermessen, kein Angriff auf politische Gegner zu ehrverletzend, kein Mittel zur Ausschaltung von Kritikern zu unbrauchbar. Erdoğan und seine Mitläufer wollen den Sieg um jeden Preis. Ihr Schlachtfeld sind die Medien.

Nirgendwo sonst ist sich das autoritär denkende Trio Putin/Erdoğan/Trump näher. Für ihre politischen Ziele wie für ihr persönliches Wohlbefinden brauchen sie Chor und Claqueure. Sie kaufen Bühne und Saal und wollen die Missliebigen strafen. Wer nicht mitsingt und mitklatscht, der fliegt.

Der Fall Deniz Yücel und der neuerliche Kniefall des Doğan-Konzerns zu Beginn dieser Woche nehmen sich wie zwei große Rachetaten des türkischen Staatspräsidenten aus. Von außen betrachtet. Von innen betrachtet, sind sie Nebensächlichkeiten, zwei kleine Kollateralschäden auf Erdoğans Fahrt zur ganzen Macht: ein deutsch-türkischer Journalist, Korrespondent der Tageszeitung "Die Welt", der nach Art des Landes für Monate oder Jahre in Untersuchungshaft weggesperrt wird? Es sitzen ja schon mehr als 150 Journalisten im Gefängnis. Aydın Doğan, der Konzerngründer, der auf Erdoğans Zuruf den Chefredakteur des Massenblatts "Hürriyet" entlässt? Es wäre ja nicht das erste Mal.

Tayyip Erdoğan braucht seine Medien als Lautsprecher und Bildschirm, um das Stimmvolk zu formieren. Journalisten und Medienunternehmer sind sein Werkzeug. Das war nicht immer so. Zu Beginn, in den ersten Jahren der Regierungszeit von Erdoğans konservativ-islamischer Partei, ging es auch um Reformen, um Inhalt und Gesellschaftswandel: hin zur Europäischen Union, Öffnung gegenüber den Minderheiten im Land, Wiedergutmachung vor allem für ein lange Zeit geächtetes anatolisches Bürgertum, fromm und konservativ im Denken. Erst mit den Jahren an der Macht wuchs, was die große Farce der Türkei unter Erdoğan werden sollte: das Bündnis des politischen Islam, der Erdoğan-AKP, mit der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen. Bis es für zwei zu eng wurde an der Macht.

Die Ausmerzung der Gülenisten geht seit dem Putsch vom Sommer 2016 mit großer Geschwindigkeit voran. Jetzt ist es nicht mehr Gülens, sondern Erdoğans Justiz, die Rechtsverfahren und Urteile produziert, um Gegner oder politisch Andersdenkende aus dem Verkehr zu ziehen. So kommt es, dass der Journalist Yücel mit offensichtlich frei flottierenden Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft im Gefängnis behalten wird – nicht anders als seine türkischen Kollegen.

20 Jahre liegt nun der stille Coup zurück, mit dem die türkischen Generäle am 28. Februar 1997 den damaligen islamistischen Premier Necmettin Erbakan aus dem Amt zwangen. "Postmodern" nannte man diesen Coup. Erdoğans Coup hat noch kein Etikett. Er ist noch im Werden. (Markus Bernath, 28.2.2017)