Wien – Darf ein Rezensent auch von sich sprechen? Insgeheim tut er dies ohnehin immer, auch wenn sein eigenes Erleben an ein Tabu rührt. Manchmal muss er jedoch sogar vielleicht Persönliches sagen, wenn er etwa an die fünfzig Interpretationen von Franz Schuberts Liederzyklus Die schöne Müllerin gehört hat – und dann allerdings einem so tiefschürfenden Zugang begegnet wie noch niemals zuvor.

Bassbariton Florian Boesch und Pianist Malcolm Martineau erzählten im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses den impliziten Entwicklungsroman des Müllersburschen mit unerhört drastischer Schonungslosigkeit und schroffer Wildheit. Das begann schon mit den ersten Tönen des Klaviers, die buchstäblich "aneckten": kein "Wandern" als romantische Idylle, sondern ruheloses Getriebensein, Ziellosigkeit, Aus-dem-Tritt-Geraten.

Mentor Harnoncourt

Boesch, der seinen Zugang nach der Aufführung noch in Diskussion mit dem Publikum erklärte, ist unverkennbar seinem Mentor Nikolaus Harnoncourt verpflichtet und hat mit Martineau einen Partner, der sein Konzept vorbehaltslos mitträgt. Er folgt der Aussage des Zyklus, wie er ihn versteht, ohne Rücksicht auf liebgewonnene Hörgewohnheiten, nimmt sich die Freiheit, den Takt aus dem Ruder laufen zu lassen, während sein lyrisches Ich strauchelt, riskiert mitunter sogar, für einen Moment nicht mit dem Pianisten zusammen zu sein.

Seine Interpretation scheint mit ihrem irritierenden, existenziell aufwühlenden Potenzial manchmal an Willkür zu grenzen und ist doch wohlüberlegt. Ich weiß nicht, ob zuvor ein Interpret Müllers Text und Schuberts Musik so tiefgreifend gelesen hat – und kenne keinen Zugang, der aus dieser Auseinandersetzung ähnlich radikale Konsequenzen gezogen hat. Liebe gibt es nicht – zumindest nicht von dieser Müllerin. Stattdessen erlebt man einen Liebenden und seinen Wahn in sich steigernden psychotischen Ausformungen.

Sezierter Text

Florian Boesch vermittelt dessen zerbrechliche Innenwelt mit suggestiver Gestik und regelrecht physischer Präsenz, vor allem jedoch tut er dies mit jeder Faser seiner imposanten Stimme: Er seziert den Text und die Musik geradezu und nimmt an einzelnen Worten oder an melodischen Wendungen einschneidende Tiefenbohrungen vor, die er auch sehr unmittelbar hörbar werden lässt.

Das reicht von scheinbar ungetrübter, dann jedoch durch fahle Zwischentöne gleich wieder Lügen gestrafter Innigkeit und Wärme bis zur herausgeschrienen Verzweiflung und Wut, mit der er etwa das Lied Mein! als Illusion deutet. Und dennoch – zuletzt findet er in Des Baches Wiegenlied tiefsten Frieden. (Daniel Ender, 3.3.2017)