Enthüllen durch Verhüllung: Meret Oppenheims "Handschuhe (Paar)", 1942-1945.

"Röntgenaufnahme des Schädels M.O.", 1964.

Kunstmuseum Bern

Ein Projekt für Sandalen.

Guido Comis

Carona ist ein Ort in den Bergen oberhalb von Lugano im Tessin. Schon als kleines Mädchen verbrachte Meret Oppenheim, die 1913 in Berlin geboren wurde und in Basel aufwuchs, die Sommermonate dort bei ihren Großeltern. Und auch als Erwachsene fuhr die Künstlerin immer wieder hinauf, malte, produzierte Objekte, entwarf Skulpturen und blieb von hier aus mit ihren weit verstreuten Freunden und Kollegen in Kontakt. Noch heute wohnen Verwandte Oppenheims in dem alten Steinhaus, umgeben sowohl von ihren Werken wie von zahlreichen Zeugnissen ihrer Zusammenarbeit mit anderen.

Der nahe Genius loci war einer der Gründe, warum das Museum für Kunst der italienischen Schweiz (Masi) in Lugano beschloss, ihr eine große Ausstellung zu widmen. Einen anderen nannte Kurator Guido Comes bei der Eröffnung Mitte Februar: "Zu lange galt Meret Oppenheim vor allem als eine Art Tochter der surrealistischen Bewegung, als Muse, die sich hauptsächlich über die anderen Mitglieder definierte. Oder es wurden ihr Ausstellungen gewidmet (wie vor vier Jahren im Kunstforum Wien), die sich ausschließlich auf ihre Arbeiten konzentrierten und kaum auf den Kontext." Sein Konzept wolle eine Brücke schlagen und zeigen, dass das Etikett "Surrealistenzirkel" zu kurz greife, weil sie auch darüber hinaus kreativ geblieben sei, dass aber die Beziehungen zu Kollegen und Mentoren zugleich eine wichtige Rolle gespielt hätten.

Die "Arbeiten im Dialog" (so der Untertitel der Schau) dominieren vor allem die ersten Räume im 2015 errichteten Masi am Luganer See. Sie zeigen, wie Oppenheim, die als 18-Jährige nach Paris ging, von den dortigen Künstlern beeinflusst wurde, auf sie reagierte. Das wirkt zunächst wie ein Suchen nach der richtigen Form, wie eine Anlehnung an das, was sie bei den anderen sah.

Zeichnung mit Zaun

Eine halbabstrakte organische Komposition Hans Arps scheint in einem Ölbild, das sie 1936 malte, ein fernes Echo zu finden; auf einen Käfig voller Würfelzucker von Marcel Duchamp antwortete sie, wenn auch erst Jahrzehnte später, mit einem Kasten mit Tierchen; und ein Foto von Man Ray ist einer ähnlich strukturierten Zeichnung der Künstlerin gegenübergestellt (auf die sie allerdings zwei Stück Schnur als "Zaun" montierte – ihre Lust, unterschiedliche Materialien zu vereinen, zeigte sich schon damals).

Man Ray war es auch, der ihr wohl bekanntestes Werk 1936 aufnahm, das Déjeuner en fourrure, jene pelzbezogene Tasse samt Untertasse und Löffel (die nicht im Masi zu sehen ist – das New Yorker Moma leiht sie nur äußerst selten und dem Vernehmen nach ungern aus). Dieses und andere Fotos des Amerikaners, etwa die Meret-Akte mit Druckerschwärze, verweisen auf die intensive, nicht nur künstlerische Beziehung der beiden. Sie selbst spricht darüber in einem Dokumentarfilm, der im Museum läuft.

Im weiteren Verlauf der Ausstellung zeigt sich zweierlei: dass Oppenheim zunehmend ihren eigenen Weg fand, wenn auch immer wieder im Zwiegespräch mit Kollegen; und dass sie bis zum Schluss nicht auf einen "Stil", eine Richtung einzugrenzen war, sondern stets Neues suchte versuchte, fast bis zu ihrem Tod 1985.

Ablehnung von Gefälligkeit

Wenn es Konstanten gibt, dann sind es am ehesten die Grundideen des Surrealismus: Sexualität und Nahrung, (alb)traumhafte Visionen (sie hatte sich früh mit C. G. Jung beschäftigt und Traumtagebücher geführt), die Montage unvereinbarer Elemente, die Ablehnung einer gefälligen Bildsprache, die nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr gelten sollte: All das findet sich auch in ihren späteren Arbeiten.

Ein ganzer Raum ist Masken gewidmet, die sie gemalt, angefertigt, gesammelt hat. Deren doppelte Funktion – zu verhüllen und durch die Verhüllung den eigentlichen Menschen hervortreten zu lassen – machte sie für Oppenheim und ihren Kreis spannend. Sie sah in ihnen die Entsublimierung, die sie schon in den Basler Fasnächten erleben konnte. Schön auch die Entsprechung zwischen ihrem Pausenbrot mit Streichhölzern und Daniel Spoerris Assemblage Aktion Restaurant Spoerri, beides von 1972.

Spoerri ist wie etwa Pipilotti Rist und viele andere im Gästebuch in Carona zu finden: ein Zeugnis der Anerkennung, die Oppenheim in ihrem späteren Leben als Künstlerin erfuhr. Und wie ein Schlussakkord hängt in der Ausstellung das mit einer aufgesprayten Tätowierung angereicherte Porträtfoto der fast 70-jährigen schönen Meret Oppenheim, die ernst und abgeklärt dem Blick des Betrachters begegnet. Sie brauchte keinen Mentor, sie machte das Foto selbst. (Michael Freund aus Lugano, 3.3.2017)