Man spürt beim Lesen des Romans "Truggestalten", dass Rudolph Herzog das moderne Berlin gut kennt.

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Rudolf Herzog, "Truggestalten". € 20,60 / 256 Seiten. Galiani-Verlag, Berlin 2017

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Die unendliche Geschichte des neuen Berliner Flughafens BER hat nun auch einen Niederschlag in der Literatur gefunden, und zwar passenderweise in einer Geschichte, die mit dem Motiv der Unendlichkeit spielt. Sie heißt Doppeldecker und findet sich in Truggestalten, dem ersten Erzählband von Rudolph Herzog. Eine junge Powerfrau bekommt einen merkwürdigen Auftrag. Sie muss einmal um die ganze Welt reisen, nur um dort auf einen Mann angesetzt zu werden, der als Kurier am Flughafen Schönefeld gearbeitet hat.

Bruno Plischke ist aber nicht mehr da. Er hat sich abgesetzt, die Suche führt in die Berliner Obdachlosenszene und schließlich in die Vergangenheit. Denn es sieht ganz so aus, als wäre dieser Bruno Plischke ein Wiedergänger, als hätte es ihn auch schon vor hundert Jahren gegeben, damals unter dem Namen Rolf Ott. Und sein Schicksal ist offensichtlich mit den Berliner Flughäfen eng verbunden: zuerst das Flugfeld Johannisthal, dann Tempelhof, nun Schönefeld. Auf dem Gelände, das heute von den Technologieparks rund um den S-Bahnhof Adlershof dominiert wird, findet Doppeldecker ein wahrhaft unheimliches Ende.

Roman für die Modernisierungsverlierer

Ein gutes Vierteljahrhundert liegt der Fall der Berliner Mauer gerade einmal zurück, und seit der Wiedervereinigung ist mit der Stadt eine Menge passiert. Zu Beginn der Nullerjahre, auf dem Höhepunkt der sogenannten Popliteratur, gab es auch gelegentlich Debatten darüber, wo denn der große Wenderoman bliebe. Schon damals konnte man antworten, dass er vielleicht eher in den kleinen Formaten zu suchen wäre. Simple Storys von Ingo Schulze ist immer noch eine der besten literarischen Quellen für die Atmosphäre jener Jahre. Und nun kommt mit Truggestalten ein Buch, das vielleicht irgendwann eine vergleichbare Funktion für das neue Berlin der Investoren, der Expats und der Modernisierungsverlierer bekommen wird.

Rudolph Herzog, Sohn des berühmten Filmemachers Werner Herzog, hat bisher als Sachbuchautor und Dokumentarfilmregisseur für das Fernsehen gearbeitet. Sein Prosadebüt verblüfft in vielerlei Hinsicht. Denn es führt in eine weiterhin geteilte Stadt, nur ist es nun nicht mehr eine Mauer, die Westberlin von Ostberlin trennt, sondern es sind die Mauern und Membrane zwischen den Zeiten, die Herzog so gekonnt zum Schwingen bringt, wenn er sie nicht manchmal auch einfach einreißt.

Berlin ist eine Stadt, in der die Geschichte an vielen Orten übermächtig ist, die derzeit aber von dem Geist einer neuen Stunde null bestimmt ist. Herzog schaut hinter diese Null, und es erscheinen ihm lauter Geister, also Truggestalten, die sich beim nächsten Hinschauen vielleicht schon nicht mehr ausnehmen lassen. Dann bleibt aber immer noch das Gefühl, man wäre auf etwas gestoßen, das sich nicht so leicht verdrängen lässt.

Totenruhe

Es beginnt mit einer Luxussanierung, einem verfallenen Gartenhaus und einem wegrationalisierten Hausmeister, und schon ist man unversehens im Jahr 1944, in der Stadt, die unter den Bombardierungen immer noch an manchen Orten Rüstungsanstrengungen unternimmt. Totenruhe, das ist so ein Begriff, der in Truggestalten erzählerisch reflektiert wird. Die Lebenden wollen Ruhe vor den Toten haben, aber es ist eine alte Weisheit der unheimlichen Genres, dass die Toten erst dann zur Ruhe kommen, wenn ihre Geschichte zu Ende erzählt worden ist. Auch wenn das nur in Andeutungen geschieht wie in Truggestalten.

Man spürt beim Lesen, dass Rudolph Herzog das moderne Berlin gut kennt: Die Geschichten spielen entweder in den angesagten Vierteln unter amerikanischen Zugezogenen oder in den Quartieren der neuen Macher. Ein Mann, der für eine Internetfirma arbeitet, hinter der man als Pendant in der Wirklichkeit unschwer einen kurzzeitigen Börsenhype wie Rocket Internet erkennen kann, fliegt einmal um die ganze Welt (auch in Chile gibt es übrigens Truggestalten), nur um schließlich doch irgendwie mitzukriegen, dass die Tochter daheim Erscheinungen hat. Sie sieht eine Frau, die früher einmal hier war, weil sich dort, wo nun Wohnungen sind, einst eine "Idiotenanstalt" befand.

Einer, der Schichten freilegt

Das Verfahren der Überblendung, auf dem diese Geschichten beruhen, ist dabei keineswegs trivial, auch wenn Herzog durchaus mit der literarischen Anmutung von Pulp-Fiction spielt. In Tandem, der vielleicht klügsten Geschichte des Buches, spielt Herzog selbst ausdrücklich auf die Archäologie als das maßgebliche Bild für seine Arbeit an. Er ist einer, der Schichten freilegt, und wie in dem berühmten Bild von der Seele als einem inneren Rom, das Freud einmal geprägt hat, geht es in Truggestalten um literarische Grabungsarbeiten.

In Tandem trifft ein junger Mann aus Griechenland auf eine seltsam alterslose Frau namens Lotte. Die neue Freundschaft findet einen Ausdruck darin, dass Lotte für Dimitri kocht. Sie macht allerdings höchst seltsame Sachen. Ein Brot aus Eicheln oder "falsche Fische" aus gemahlenem Futtermais mit einem Schuss Lebertran. Die Geschichte, die passenderweise im radikal umgedrehten ehemaligen Ost-Boheme-Bezirk Prenzlauer Berg spielt, findet einen schaurigen Höhepunkt auf einem Friedhof für Atheisten, und mit einer starken Parole: "Nicht der Hunger tötet, sondern die Kultur", ruft Lotte – auf Griechisch.

Ein Berlin-Buch der Gegenwart macht eben nur dann Sinn, wenn es zugleich in Athen, in Chile oder in den USA spielt, also an den vielen Orten, zu denen es von Berlin aus Verbindungen persönlicher oder historischer Natur gibt. Die Türkei ist für eine Stadt, in der es ein gar nicht so kleines Klein-Istanbul gibt, natürlich ein ganz wesentlicher Bezugspunkt, und auch hier findet Herzog eine höchst originelle Lösung, wenn er von einer Wohnung erzählt, die ohne einen türkischen Exorzismus nicht länger auszuhalten wäre – es ist eine Szene, die an Groteskerie allenfalls durch die Harmlosigkeit zu überbieten ist, mit der das aktuelle deutsche Multikultiwohlfühlkino die Buntheit eines Stadtteils wie Kreuzberg zum Touristenmotiv macht.

Momente treffen und gekonnt verfehlen

In dem Dialog zwischen einer Tochter und ihrer alkoholkranken Mutter findet Truggestalten seine Prämissen. "Warum trinkst du so viel?", will die Tochter wissen. "Weil die Geister wieder da sind." "Es gibt keine Geister." "Dann nenn es die Vergangenheit." "Die Vergangenheit ist vorbei." Hier fällt einen natürlich sofort eine berühmte Antwort ein, denn die Vergangenheit ist nicht nur nicht vorbei, sie ist nicht einmal vergangen, auch wenn sich Berlin mit aller Kraft (und nicht immer sehr geschickt) den Anschein einer Innovationsmetropole zu geben versucht.

Rudolph Herzog erweist sich dem gegenüber als ein im besten Sinn subversiver Erzähler, der, wo notwendig, sogar in die Rolle eines Stasi-Mitarbeiters schlüpft, der im Brustton der biederen Überzeugung sagt: "Ein Mordkommando wie das des nationalsozialistischen Untergrunds NSU wäre im Osten nicht weit gekommen." In dieser letzten Geschichte Kugelblitz dreht Herzog sogar den Begriff Maueropfer einmal gegen sich selbst, und verhilft so zu einer noch einmal überraschenden Perspektive auf die heutige Szenegegend zwischen Neukölln und Alt-Treptow.

Das Buch für die Berlin-Reise

Lange Zeit war es gute Tradition, auf Städtereisen auch immer ein Buch in der Tasche zu haben. Für Berlin müsste das für den Moment auf jeden Fall Truggestalten von Rudolph Herzog sein. Es trifft den Moment, weil es den Moment gekonnt verfehlt und ihn als Ideologie kenntlich macht. Die Gunst der Stunde, von der Immobilienkäufer oder andere Profiteure so gern sprechen, steht im Schatten einer langen Dauer, die sich immer ihr Recht verschaffen wird.

Hinter Rudolph Herzogs Truggestalten steht auch eine Vorstellung mit geschichtspolitischen Implikationen: eine Stadt, die ihr historisches Bewusstsein nicht auf Stolpersteine auf den Gehwegen und auf routiniertes Gedenkstättenmanagement beschränkt, sondern die genau registriert, was sie verliert, wenn sie die Zukunft gewinnen will. Der Satz von Lotte gilt ja auch umgekehrt: Nicht das Essen belebt, sondern die Kultur. Truggestalten ist dafür ein wunderbares Beispiel. (Bert Rebhandl, 7.3.2017)