Vier Frauen und ein Projekt: Nadine Kegeles Vorlage für die Frauenprotokolle aus "Lieben muss man unfrisiert" ...

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– mit einem Vorwort von Marlene Steeruwitz –

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... war Maxie Wanders Buch von 1977 "Guten Morgen, du Schöne".

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Das Vorwort schrieb damals Christa Wolf.

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Nadine Kegele
Lieben muss man unfrisiert

Kremayr & Scheriau 2017
22,90 Euro, 343 Seiten

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Das Vorwort zu den "Protokollen nach Tonband": Macht begründet sich aus einer Geschichtsschreibung, die alle Ereignisse als logische Folge aus einem einzigen Ursprung aneinanderfügt. Der Ursprung dient zur Begründung der Zeitrechnung. Ja. Die Zeit selbst wird auf diese Weise von der Geschichtsschreibung in Besitz genommen. Und. Es wird nur sichtbar, was jene Macht sehen lassen will, die sich die Geschichtsschreibung gewaltsam erobert oder erschlichen hat. Was wir also gemeinhin als Geschichte oder Geschichtliches vorgelegt bekommen, ist nichts anderes als die Beschreibung der Macht in den jeweiligen Zeitläufen.

So ist es dem Patriarchat gelungen, in der Beschreibung des Vorrangs des weißen, heterosexuellen Manns die Geschichte aller anderen und vor allem aller anderen Geschlechter unsichtbar zu machen. Wie der kanonischen Selbstverständlichkeit eines solchen Geschichtsbegriffs entgangen werden kann, das führt Nadine Kegele mit den "Protokollen nach Tonband" in "Lieben muss man unfrisiert" vor. So, wie Maxie Wander das mit den Interviews in Guten Morgen, du Schöne 1977 schon versuchte.

In beiden Projekten werden die persönlichen Texte der Personen quer zur allgemeinen Geschichte gelegt, und je einen Text lang wird die Geschichtsschreibung an die jeweils sprechende Person übergeben. In beiden Projekten zeigt sich nun auf erstaunliche Weise, wie staatsgemacht Geschlecht gelebt wird. Oder werden muss. Oder gelebt werden musste. Aber. Das ist nicht verwunderlich. Alle Politik begründet sich auf der Geschlechterfrage. In jeder Politik geht es um die Regelung, was Geschlecht bedeutet. Nicht ohne Grund hat das Patriarchat die Geschichtserzählung so sorgfältig auf die Geschichte des weißen, heterosexuellen Manns begrenzt. Aus der Bestimmtheit dieser einen Norm können alle anderen Regelungen je nach Bedarf und Vorstellung abgeleitet werden. Und. Das werden sie. Und. Das ist in den Protokollen nach Tonband auch nachzulesen.

Patriarchales Normgeschlecht

Alle Texte erzählen von der Auseinandersetzung mit diesem Abgeleitet-Sein. Je weiter eine Person sich von der Grundnorm weißer, heterosexueller Mann entfernt befindet, umso wichtiger wird diese Norm. Was sich beim Lesen nun erhellend klärt, das ist die Tatsache, dass diese Norm kulturell vermittelt bleibt, während die staatlichen Vorgaben ja nicht mehr normativ verfasst sind. In Deutschland wie in Österreich fällt Geschlecht in die Autonomie der Person.

Es zeigt sich, dass der Staat mehr Freiheit vorsieht, als die gelebte Wirklichkeit in der Gesellschaft erlaubt. Fast in jedem Interview ist von Schutzmaßnahmen für sich selbst die Rede. Sei es, dass Transgenderpersonen sich gegen tägliche, tätliche Angriffe auf der Straße gefasst machen. Oder. Sei es, dass die Heterofrau sich gegen den täglichen, tätlichen Übergriff in der U-Bahn wappnet. Aber. Diese Gewalt wird als selbstverständlicher Bestandteil des Lebens im gewählten Geschlecht gesehen. Das klingt einerseits nach Selbstermächtigung. Andererseits. Keine der interviewten Personen verlangt in demokratischer Selbstfürsorge die Gewährleistung der gegebenen Freiheiten vom Staat. Die Genderfreiheiten werden wohl mehr als Geschenke angesehen und nicht als Rechte. Das ist kein Wunder. Denn. Kulturell hat sich ja keine Geschichtsschreibung herstellen lassen, die alle Geschlechter unabgeleitet, also autonom, zur Erscheinung brächte.

Kulturell vermittelte Norm

So wird in vielen Texten vom Körpergewicht als Maß für die Eigenakzeptanz berichtet. Hier beschreibt sich eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körpergewicht als Metapher für die gesamte Haltung sich selbst gegenüber. Das Gewicht ist dann nicht leicht genug, die Schwere der Norm zu erfüllen. Und. Was so unverändert die Veränderungen beschwerlich macht. Die Zuschreibung des ersten Geschlechts einer Person ist weiterhin wie immer schon Sohn oder Tochter. Wie eh und je müssen die Personen sich aus dem Baukasten Sohn oder Tochter mit

einem Geschlecht ausstatten. Viele Interviews berichten davon, wie diese erste Geschlechterzuschreibung ein lebenslängliches Urteil bedeutete. Wir lesen, welche Mühe aufgewendet werden muss, sich aus diesem Urteil herauszuarbeiten. Ja. Dieses Urteil in seiner gesamten Schwere überhaupt erst zu begreifen. Wie es ganz grundsätzlich darum geht, Identität zu konstruieren und diese dann in der äußeren Welt zu präsentieren.

Was sich lesen lässt. Diese erste und rein binäre Geschlechtszuweisung von Sohn und Tochter kommt aus einem Zusammentreffen der Elternvorstellungen und allgemeinen, kulturell vermittelten Entwürfen zustande. Das Kind wird so in eine Dreierbeziehung von Elternhaus und Öffentlichkeit genommen, die wie früher in der Triangulierung zur Kirche dem Kind keine Sprache lässt. Das Kind wird in diesem ersten Geschlecht gesprochen. Das Kind selbst spricht nicht. Es wird aber auch nicht zu dem Kind gesprochen. Das Wissen, was das nun war, dieses erste Geschlecht, das muss dann später mit der Sprache der Therapie gehoben werden.

Wie sich die Sprache der Therapie überhaupt als das Instrument zeigt, das Geschlecht sprechbar macht. Das müsste nicht so sein. Es könnten Gedichte das eigene Geschlecht preisen. Philosophische Einlassungen. Naturwissenschaftliche Abhandlungen. Aber nein. Das Geschlecht wird aus dem Wust der Erinnerungen therapeutisch herausgeschält. Verdachtsthesen zu sich selbst werden aufgestellt und sollen sich in der Lebenspraxis bewähren.

Es handelt sich so gesehen um ein Heilverfahren, wenn die Konstruktion des eigenen Geschlechts erkundet wird. In der Logik der Unsichtbarkeit aller Geschlechter außer dem patriarchalen Normgeschlecht ist das offenkundig der einzige Weg in die Sichtbarkeit. Zumindest vor sich selbst. In der Heilung in das eigene Geschlecht ist die Sichtbarkeit in der Welt enthalten. Das ist ein subversiver Vorgang, der sich auch gegen die eigene Vergangenheit richtet.

Im Falschen landen

In der Kindheit. Es scheint an den Müttern zu liegen, wenn es dieser therapeutischen Entfernung von der kindlichen Vergangenheit bedarf. Oft wird eine Verweigerung der Mütter beschrieben, ihren Töchtern ein Geschlecht zuzusprechen. Kälte und Entferntheit verschieben die Selbstwahrnehmung der Töchter in wiederum eigene Kälte und Entferntheit. Die Tragödie des Frauseins tritt auf. Denn. In der Erzählung über die Mütter schimmert wiederum deren Staatsgemachtheit durch. Die Mütter, die unzufriedene Hausfrauen waren, aber dachten, wiederum einer Norm verpflichtet zu sein. Die strukturelle Nichtanerkennung der Pflichterfüllung. Die Unsprechbarkeit dieser Lebenskonstruktionen. Die Enttäuschung, alles richtig gemacht zu haben und trotzdem im Falschen zu landen. Das lag auch an den Rahmenbedingungen. Und der Verführung in die Anpassung. Aber. Keine politische Analyse der Situation taucht auf. Keine Frage nach dem Zusammenhang der Dinge in der äußeren Welt wird gestellt. Alles wird im Auftrag zu weiblicher Selbstbezogenheit nach innen gewandt. Und. Das alles entfernt die Muttergeneration wieder und einmal mehr von den Töchtern. Nie wird aber diese allgemeine Lage gesehen.

Die gesellschaftlichen Bedingungen werden privat ausgelegt. Im Privaten müssen sie schöngeredet oder schöngedacht werden. Das Leben wäre sonst endgültig unerträglich. Und. So quält sich eine Frauengeneration mit dem Leben ab und versenkt die Qual in die Biografie ihrer Kinder. Die Töchter. Sie können immerhin einen Blick auf sich werfen. Mittlerweile. Aber. Ihre Mütter werden wieder vergeschichtlicht. Und das mithilfe der hegemonialen Geschichtsschreibung. Die Mütter werden so, nun wiederum von den Töchtern, unsichtbar gemacht. Aufbruch wird in Lieben muss man unfrisiert in der dritten Generation lesbar. Die Töchter erfinden sich neu. Ihre Kinder sollen sprechen lernen und nicht gesprochen werden. Das ist schön zu lesen.

Wie insgesamt die Bilanz dieser Texte einen großen Wunsch nach der Stärkung der Kinderrechte ergibt. Es ginge darum, das Recht auf die Wahl des eigenen Geschlechts für das Kind so lange wie nur möglich offenzuhalten. Wie das gehen könnte, das ist den einzelnen Texten zu entnehmen. Ja. Es müsste die Vorstellung reichen, wie ein solcher Text vom Gelingen erzählen könnte. Und wie in diesem Band müsste Protokoll an Protokoll gereiht werden, um einer Vielfalt gerecht zu werden, die dann als Vielfalt sichtbar würde. Der Einspruch gegen die Norm der Geschichtsschreibung müsste ja in jedem Leben einzeln erhoben werden, um die Vielfältigkeit zur Existenz zu bringen. Die Geschichtsschreibung selbst müsste so aussehen, wie das in den Protokollen nach Tonband der Fall ist. Jede kommt zu Wort. Und. Im vernommenen Sprechen kann ein genuines Selbst zum Vorschein kommen. (Marlene Streeruwitz, 5.3.2017)