Zwei wie Pech und Schwefel: Mephisto (li., Marc Hosemann) und "Iggy Pop" Faust (Martin Wuttke).

Foto: Thomas Aurin

Die berühmte Wette um Fausts Seele wird in der Berliner Volksbühne von vornherein verloren gegeben. Frank Castorf verlässt sein Haus, nicht ganz freiwillig, nach einem Vierteljahrhundert. Zum Abschiednehmen hat er sich ausgerechnet der Deutschen liebstes Drama ausgesucht: Goethes "Faust".

Tatsächlich hat der Großmeister der szenischen Assoziationskunst alles ausgespart, was auch nur von ferne an faustisches Ringen erinnern könnte. Auf der Bühne steht eine Geisterbahn der Pariser Belle Époque (Ausstattung: Aleksandar Denic), komplett mit Schnörkelbalkon und Zinnenturm. Über dem Portal heißt die Aufschrift "L’Enfer" den Zuschauer in der Hölle auf Erden willkommen. Voilà: Anbauten lassen vage an das koloniale Indochina denken. In einer Sudelkneipe verköstigen sich die Schauspieler mit Kraut und Würstchen. Ein hauchzart bestrumpftes Helena-Gretchen (Valery Tscheplanova) liegt am Tresen und trällert Chansons.

Es dauert geraume Zeit, bis ein unmanierlicher Doktor Wagner (Lars Rudolph) eine Eprouvette zückt und den Prototypen seines Homunculus mit Absinth aufgießt.

Goethes "Faust" ist eine unschätzbare Schatzkammer für alle, die die Entstehung des Hochkapitalismus im 19. Jahrhundert verstehen wollen. Wiederum wird deutlich: Das Prinzip Volksbühne soll vom Belgier Chris Dercon demnächst entsorgt werden. Eine gute Gelegenheit, während sieben Stunden noch einmal vorzuführen, warum Castorfs wütende Zerlegung der Geschichte in Momente des Terrors und des Aufbegehrens unentbehrlich ist – und bleibt.

Greisenmaske aus Latex

Denn Faust (Martin Wuttke) selbst hat es eigentlich überstanden. Das Gesicht hinter einer Greisenmaske aus Latex versteckt, knuspert und sabbelt er die Goethe-Verse unverständlich herunter. Sein Mephisto (Marc Hosemann) ist ein äußerst gelenkiger Varietékünstler mit Chapeau claque.

Dieses eilig-unheilige Paar hat es nach Paris verschlagen. Im Dunstkreis des Gespensterbaus lockt der Abgang der Metro-Station "Stalingrad". Im Bauch der Zuggarnitur aber, also in der Unterbühne, sitzen die vom Kolonialismus Erniedrigten und Beleidigten. Schwarze wie "Monsieur Rap" (Abdoul Kader Traoré), die Paul Celans "Todesfuge" französisch deklamieren. In einer Atmosphäre kolonialer Gewalt wird der Schrecken des algerischen Befreiungskrieges beschworen. Zeuge dieser Hatz durch die Jahrhunderte ist, wie immer bei Castorf, die Handkamera. Ihre Nahaufnahmen kehren auf der Leinwand wieder und ermöglichen Proben einer Intimität, die weniger den Figuren als der Geistesgegenwart der völlig unvergleichlichen Schauspieler gilt.

Auch darauf muss man also kommen: Fausts unternehmender Geist kostet zum Ende des Zweiten Teils das fromme Paar Philemon und Baucis das Leben. Hier kehren sie wieder, als Voodoo-Geister einer widersetzlichen Macht. Und um die Beweisführung von Ursache und Wirkung eher noch zu verschärfen, legt Castorf die einzelnen Erzählschichten wie in einem Palimpsest übereinander.

Kokotte aus der Operette

Gretchen macht Karriere, freilich als "Nana" aus Émile Zolas gleichnamigem Kokotten- und Operettenroman. Was hier kursiert, ist nicht etwa die Substanz eines zu Tode interpretierten Werkes, sondern ein Stück Seife. Opfer wie Täter, sagt Castorf, sind die mit Seifenschaum Angeschmierten. Die Geschichte des Fortschritts ist zu Ende erzählt. Was bleibt, sind Erinnerungen an die bürgerliche Mentalität. Wer ein bisschen Liebe abhaben möchte, der bückt sich eben nach dem Seifenstück.

In dieser famosen Abarbeitung aller Besonderheiten, die die Volksbühne (bis heute) ausmachen, schleicht sich häufig genug der gar nicht verneinende Geist der Nummernrevue ein. Wuttke gibt, das Antlitz frei gelegt, den schnarrenden Meister aus Deutschland, der in algerischen Flüsterkneipen hockt und – auf der Suche nach Helena – ein zauberhaftes Hexenküchenduett mit Sophie Rois bestreitet. Lord Byron (Alexander Scheer) ist der stepptanzender Wiedergänger eines radebrechenden Belgiers (Dercon?).

Ist man durch die Textlawinen unversehrt hindurchgerutscht, darf man Faust auf dem quietschenden Dreirad herumkurven sehen. Mephisto versetzt ihm Kopfpüffe mit algerischem Fähnchen. Auch das ist das Prinzip Castorf: Der verstockten Menge hilft er mit zärtlichen Kopfnüssen beim Denken. Das ist grandios. Ende Juni soll es eine allerletzte (kleine) Castorf-Inszenierung geben. Dann ist Schluss. In der kommenden Saison wird er bereits am Berliner Ensemble unter dessen neuen Intendanten Oliver Reese inszenieren. (Ronald Pohl, 5.3. 2017)