Wien – Tempus fugit, wir leben in einer rasenden Zeit. Kaum ist das letzte Lei Lei verkräht, wird schon am Kreuze gestorben: Die Wiener Symphoniker spielten am Wochenende im Konzerthaus die Johannespassion. Doch rasend war ja auch die Produktivität ihres Schöpfers, Johann Sebastian Bach. Und rasend sind dieser Tage auch die nachschöpferischen Aktivitäten Philippe Jordans: Nach der Kirchenmusik im Konzerthaus erwarten den Chefdirigenten im Musikverein Beethoven-Symphonien. Niemals ruhen!

Bachs Leidensgeschichte wurde zusammen mit der Wiener Singakademie und einer exquisiten Solistenschar erzählt. Adrian Eröd sah man als Christus bleich und erdrückt von dem, was da auf ihn zukommen sollte; Florian Boesch (Petrus, Pilatus) blickte herausfordernd und mit funkelnden Augen auf das Publikum: wie ein Räuberhauptmann auf seine Beute. Gesanglich blieb Eröd ein wenig blass, Boesch ging seinen Part farbiger und angriffslustiger an, lediglich in seiner letzten Arie kam der Imposante leicht ins Schwitzen.

Mit seinem quicken, geschmeidig-hellen Tenor war Werner Güra ein mitfühlender Evangelist ohne Strenge. Elisabeth Kulman wirkte zu Beginn fast zu zurückgenommen, Genia Kühmeier hätte ihre erste Arie wohl gern in einem flüssigeren Tempo gesungen und enteilte den (etwas trägen) Querflöten immer wieder. Beglückend Daniel Behle mit seinem honigweichen Tenor, seinem zarten, federleichten Pianissimo und seiner dramatischen Kraft, die nie den Bereich des Noblen verließ.

Doch die wichtigste, gewaltigste, vielfältigste Stimme in dieser Leidenserzählung ist natürlich die des Chors. Die von Heinz Ferlesch einstudierte Wiener Singakademie machte ihre Sache ganz hervorragend, erfüllte die Choräle mit kontemplativer Kraft und mitfühlender Wärme und zeichnete die bissigen Hetztiraden des Volkes mit hinreißender Schärfe und Prägnanz.

Philippe Jordan ließ viele Erkenntnisse des historisch informierten Musizierens in seine durchhörbare, plastische, mit Ernst und Sinnlichkeit erfüllte Interpretation mit einfließen; nur bei der Continuo-Gruppe lief am Samstag noch nicht alles hundertprozentig rund. Begeisterung im Konzerthaus: Die Sache mit Ostern wäre also vollbracht, Pfingsten kann kommen. (Stefan Ender, 6.3.2017)