Bitte recht freundlich? Die Debatten um kopftuchtragende muslimische Frauen haben eine argumentative Härte und Unerbittlichkeit erreicht, die ihresgleichen sucht.

Foto: Heribert CORN

Die Reaktionen auf Elif Yilmaz' sehr persönliche Geschichte ihrer Integration in der Gesellschaft, in die sie aufgrund der Migration ihrer Eltern hineingeboren wurde (DER STANDARD, 25. Februar), geben zu denken. Was hat sie getan, um sogar in der Leserschaft einer liberalen Zeitung derart heftige Ablehnung auszulösen (Leserforum im STANDARD vom 1. März)?

Frau Yilmaz beschrieb sehr anschaulich, wie sie und ihre Familie sich bemühten, ihren Platz in der oberösterreichischen Gesellschaft zu finden. Sie verriet den Leserinnen und Lesern aber nicht, warum sie sich vor zwei Jahren entschlossen hat, das Kopftuch zu tragen. Umgekehrt, sie stellte die (rhetorische) Frage, warum sich hier beheimatete Frauen dafür rechtfertigen müssten, dass sie Kopftücher tragen.

Zugegeben, es wäre durchaus interessant zu wissen, warum sich eine Frau, die 45 Jahre lang kein Kopftuch getragen hat, entschloss, dieses jetzt doch zu tragen. Da diese Frage aber eine persönliche Angelegenheit betrifft, würde ich sie nur fragen, wenn ich diese Frau persönlich kennen würde und wir eine vertrauensvolle Gesprächsbasis hätten.

Auch im Leserforum wurde diese Frage nicht ernsthaft gestellt (abgesehen von der rein rhetorischen Frage von Frau Kronabitter), aber meist sehr wohl beantwortet, und zwar damit, dass das Tragen des Kopftuches eine politische Botschaft bzw. sogar eine politische Provokation sei. Damit spiegelt der STANDARD perfekt den öffentlichen Diskurs, in dem Fragen immer weniger für nötig befunden werden, der aber immer öfter vorgefertigte Antworten bietet. Profunde Untersuchungen über die weltweite Re-Islamisierung von bisher laizistischen islamischen Gesellschaften werden in diesen Diskursen nicht einmal wahrgenommen.

Die offene Gesellschaft, in der wir uns wähnten, wird immer mehr infrage gestellt, wenn wir die Interaktion mit anderen Kulturen allein durch Gebote und Verbote regeln wollen, ohne jegliche Bereitschaft aufeinander zuzugehen. Wir können so zwar das Tragen von Kopftüchern in öffentlichen Einrichtungen per Gesetz verbieten, aber damit haben wir noch gar keinen Beitrag dazu geleistet, dass z. B. die religiös begründete Unterdrückung von Frauen abgebaut oder der politischen Radikalisierung Einhalt geboten würde. Wir bekämpfen nur ein Symptom und lassen die Ursache unangetastet, was dann oft zu einer noch stärkeren Isolation der Betroffenen führt – ein guter Nährboden für weitere Radikalisierung! Frau Yilmaz hingegen hat ihre Bereitschaft, auf die alteingesessene Bevölkerung zuzugehen, anschaulich beschrieben ("Baklava und Apfelstrudel"), aber kaum wird das Kopftuch erwähnt, fällt ein undurchdringlicher Vorhang, der jedes weitere ernsthafte Gespräch unmöglich macht.

Wenn es uns in der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen tatsächlich um emanzipatorische Anliegen gehen würde, müssten wir festhalten, dass etwa auch die west- und nordeuropäischen Gesellschaften ihre Errungenschaften beim Ausgleich der Geschlechterverhältnisse nur erreichen konnten, weil die Frauen selbst sich gegen ihre Unterdrückung auflehnten, und natürlich nicht durch eine Intervention von außen. Wir müssten zuerst fragen, welche Motive Menschen für ihr Verhalten haben, nur dann könnten wir sie möglicherweise davon überzeugen, dass unser Gesellschaftsmodell möglicherweise bessere Entfaltungsmöglichkeiten für mehr Menschen bietet als viele islamisch geprägte Gesellschaftsmodelle. Wir sollten aber keinesfalls der Fehlinformation aufsitzen, dass eine christlich geprägte Gesellschaft liberaler wäre als eine islamische, da auch in den mehrheitlich christlichen Ländern liberale Grundrechte und Emanzipation meist gegen den Widerstand der Kirche erkämpft werden mussten bzw. teilweise erst erkämpft werden müssen.

Inzwischen sind wir weiter von einem Dialog der Weltanschauungen entfernt als in den letzten Jahrzehnten, und wir erleben eine schrittweise Radikalisierung der Sprache: Aussagen, die Anfang dieses Jahrtausends noch mit dem Verdacht des Rechtsextremismus belegt worden wären, sind jetzt weitgehend normaler Sprachgebrauch geworden. Ähnlich wie in den 1930er-Jahren gewöhnen wir uns offenbar nach einer gewissen Zeit immer wieder an die fortschreitende Verrohung der Diskurse über die "Anderen". Besonders bedauerlich ist, dass viele bürgerliche und sozialdemokratische Regierungen zwar immer noch von Integration reden, aber unter diesem Schlagwort Maßnahmen setzen, die die Integration in unserer Gesellschaft de facto mehr blockieren als fördern.

Inzwischen geht es in den Diskursen um die europäische Leitkultur ja längst nicht mehr um die Kultur selbst, sondern um die Marginalisierung bzw. Entfernung derer, die als die "Anderen" definiert werden. Besonders besorgniserregend ist dabei, dass ähnlich wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine kleine Gruppe von Migranten isoliert wird, die aufgrund ihrer äußeren Erscheinung leicht von der großen Gruppe der tolerierten Migranten unterschieden werden kann. Und genau wie damals sind es auch jetzt wieder Kleidungsgewohnheiten und Haartracht, die den Stein des Anstoßes bilden.

Gruppenegoismen

Natürlich zeigt dieser historische Vergleich auch eine Reihe von Unterschieden, dennoch ist die aktuelle Entwicklung aufgrund der sozialen und politischen Rahmenbedingungen, in denen dieser Kulturkonflikt stattfindet, sehr bedrohlich. Weltweit verabschieden sich immer mehr Regierungen vom bisherigen Konsens der kollektiven Problemlösungen und glauben in nationalen Alleingängen ihr Heil zu finden. Bei uns wird die gute alte Solidarität mit den Schwächeren als Träumerei abgetan, Gruppenegoismen feiern wieder "fröhliche Urständ", und immer mehr soziale, nationale und religiöse Konflikte werden gewaltsam ausgetragen.

Mit Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist jetzt ganz dringend Deeskalation angeraten. Reden wir mit unseren muslimischen Nachbarinnen und Nachbarn! Versuchen wir sie von den Vorzügen der offenen Gesellschaft zu überzeugen, aber lassen wir uns bitte nicht einreden, dass man das per Gesetz oder Verordnung erreichen könnte. (Heinz Berger, 6.3.2017)