"Wir sollten sehr vorsichtig sein, nicht in die Falle einer sogenannten Orientalisierung der Geschlechtergewalt zu tappen, in der Annahme, sie passiere nur anderswo und Migrantinnen müssten 'gerettet' werden", sagt die Politikwissenschafterin Nikita Dhawan.

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STANDARD: Das Thema Geschlechtergewalt wird in Europa leider nur ein Thema der breiten Öffentlichkeit, wenn es, wie nach den Übergriffen von Köln, Rassismus legitimiert: die Täter sind "die Anderen", die "Fremden". Wie können wir das Reden über Geschlechtergewalt abseits von Rassismus zurückerobern?

Nikita Dhawan: Es ist wichtig, sich genau anzuschauen, wie man in Europa das Stereotyp vom "frauenfeindlichen Flüchtling" mobilisiert, um sich der humanitären Verantwortung zu entziehen und Flüchtlingen ihre Menschenrechte zu verweigern. Einerseits sind wir schon seit Jahren mit einem Backlash, nämlich einem Rückschritt bei den feministischen Errungenschaften, konfrontiert. Andererseits erleben wir die Inanspruchnahme und Instrumentalisierung feministischer Forderungen für rassistisches Gedankengut. Deshalb sind die sich erstarkende feministische Widerstände, wie z. B. die Demonstration in Köln unter dem Titel "Unser Feminismus ist anti-rassistisch" außerordentlich wichtig und begrüßenswert.

STANDARD: Was können diese bewirken?

Dhawan: Diese politischen Positionierungen nicht rassistischer Feministinnen sind zwar bedeutsam, aber eine verantwortungsvolle Solidarität zwischen Feministinnen aus dem globalen Norden und globalen Süden verlangt nach Selbst-Reflexivität. Den Zusammenhang zwischen westlicher Politik und der Situation von Frauen in der dritten Welt muss dringend berücksichtigt werden – insbesondere dann, wenn militärische Interventionen wie der Krieg in Afghanistan von westlicher Seite immer wieder mit dem Verweis auf Geschlechtergewalt legitimiert werden.

STANDARD: Sie haben eine Professur für politische Theorie in Innsbruck, haben aber auch in Costa Rica, Australien, Spanien, den USA und Südkorea geforscht. Im Vergleich: Wie ist es um den postkolonialen Diskurs in Österreich bestellt?

Dhawan: Bekannt ist Salman Rushdies Bemerkung: "Das Problem mit den Engländern ist, dass sich ihre Geschichte in Übersee zugetragen hat und sie daher nicht um ihre Bedeutung wissen." Auch in deutschsprachigen Raum dominiert nach wie vor in Bezug auf den Kolonialismus eine relative Geschichtsvergessenheit. Es wird immer wieder behauptet, dass im deutschsprachigen Kontext sei postkoloniale Theorie kaum von Relevanz, da weder Deutschland noch Österreich – und noch weniger die Schweiz – historisch zu den großen Kolonialmächten gehört haben.

STANDARD: Was wird dabei vergessen?

Dhawan: Dabei wird die direkte und indirekte Beteiligung dieser Länder in Sklavenhandel und kolonialen Handel ignoriert. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir ohne Kolonialismus in Europa keine Kartoffeln, Schokolade oder Baumwolle hätten. Zum Beispiel versäumt es Jürgen Habermas in sträflicher Weise, wenn er nach Kant, die aufblühende Kaffeehaus- und Salonkultur mit der Entstehung der Aufklärung und der deliberativen Demokratie in Verbindung bringt, zu erwähnen, unter welch ausbeuterischen und dehumanisierten Bedingungen Kaffee, Zucker und Tabak produziert wurden. Produkte, die dann für den europäischen Konsum in diesen ehrenwerten bürgerlichen öffentlichen Sphären bereitgestellt wurden. Es ist angemessen, sich an Fanons Bemerkung zu erinnern, dass "Europa buchstäblich eine Erfindung der Dritten Welt" ist.

STANDARD: Sie argumentieren bei Ihrem Vortrag in Dürnstein, dass "neue Formen kollektiver Handlungsmacht" paradoxer Weise gerade dort entstehen, wo eine "spezifische Vulnerabilität verortet" ist. Können Sie bitte dafür ein Beispiel bringen?

Dhawan: Ein gutes Beispiel ist der Women’s March on Washington am 21. Januar 2017, dem ersten Tag nach der Amtseinführung von Donald Trump. Es war ein Protestmarsch gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie, Behindertenfeindlichkeit, Imperialismus und für Geschlechtergerechtigkeit und Frauen- und Menschenrechte. Neben dem Marsch in Washington D.C. fanden Solidaritätsmärsche in anderen US-amerikanischen Großstädten und in zahlreichen anderen Ländern statt. Dabei sollen sich insgesamt zwei Millionen Menschen weltweit beteiligt haben, vor allem Frauen. Bei dem Marsch waren viele selbstgestaltete Symbole zu sehen, die häufig mit den Bedeutungen von Pussy spielten und damit auf Trump-Äußerungen Bezug nahmen und eine subversive, humorvolle Parodie der sexistischen Hassrede darlegten. Hier kamen Verletzlichkeit und Handlungsmacht wunderbar zusammen.

STANDARD: Sie sind gerade in Indien. Nach der Gruppenvergewaltigung einer Studentin in Delhi gab es 2012 auf einmal großes Interesse der internationalen Medien an dem Status der indischen Frau. Die Inderinnen selbst haben damals landesweit massenhaft protestiert – was hat sich seitdem in Indien für die Frauen geändert?

Dhawan: Einer der frustrierendsten Umstände bei der politischen Arbeit, im speziellen der feministischen, ist die beinahe unaushaltbare Langsamkeit der Veränderung. Während indische Feministinnen, wie die Feministinnen weltweit, für Geschlechtergerechtigkeit kämpfen, sind sie mit einem Backlash konfrontiert. Wir sollten sehr vorsichtig sein, nicht in die Falle einer sogenannten Orientalisierung der Geschlechtergewalt zu tappen, in der Annahme, sie passiere nur anderswo und Migrantinnen müssten "gerettet" werden. Nehmen Sie den Fall der US-Wahl 2016: Im Kontrast zu über 50 Prozent weißer Frauen, mit höherer Bildung oder ohne, die, trotz seiner sexistischen, rassistischen und homophoben Politik, Trump und nicht Clinton wählten, hat eine überwältigende Mehrheit von Schwarzen, Latinas und anderen "women of color" nicht Trump gewählt. Es sieht so aus, um mit der feministischen Philosophin Gayatri Spivak, einer Mitbegründerin der postkolonialen Theorie, zu sprechen, als ob "es die Bürde der braunen Frauen ist, die weißen Frauen vor den weißen Männern zu retten".

STANDARD: 2013 gab es in Deutschland und Österreich eine breite Diskussion um das Geschlechterverhältnis unter #aufschrei. Beobachten Sie ähnliche Phänomene im außereuropäischen Raum? Wie verändert die Digitalisierung die Diskussion?

Dhawan: Ich bin ambivalent, was das emanzipatorische Potenzial des sogenannten Hashtag-Aktivismus und der virtuellen Öffentlichkeit betrifft. Meiner Meinung nach ist es notwendig, unser Verständnis von Widerstand zu überarbeiten und den Verführungen der Revolutionsfantasien via Twitter und Facebook entgegenzuwirken. Zugang zu Social Media erleichtert das Teilen von Meinungen und Information, aber es garantiert nicht notwendiger Weise die Entstehung von kritischen BürgerInnen. Nehmen wir das Beispiel Indien, wo Studien einen direkten Zusammenhang zwischen leichterem Zugang zum Internet und einem Anstieg des Pornokonsums gezeigt haben. Ich bin nicht für Zensur, aber ich habe meine Zweifel, ob größere Digitalisierung automatisch Frauen stärkt und die Geschlechterbeziehungen transformiert. D.h. die große Geschwindigkeit des digitalen Aktivismus muss von einer Kultivierung des kritischen Denkens unterstützt werden, was ein sehr langsamer Prozess ist.

STANDARD: Ende Februar sorgte die Kulturwissenschafterin Mithu Sanyal für Aufsehen, als sie in einem Artikel in der taz forderte, statt "Opfer" den Terminus "Erlebende" sexualisierter Gewalt zu verwenden. Sie argumentierte, "Opfer" beinhalte immer schon die Konnotation der Schwäche, Abhängigkeit und Unterwerfung. Was halten Sie davon?

Dhawan: Soweit ich weiß, ist der Terminus "Rape survivor" der bevorzugte Terminus im Anglo-Amerikanischen Diskurs. Natürlich kann man aber in Bezug auf den Fall der Gruppenvergewaltigung in Delhi nicht von "Rape survivor" sprechen, weil Jyoti Singh Pandey an den Folgen ihrer Verletzungen gestorben ist.

STANDARD: Sanyals Vorschlag stieß auch in feministsichen Kreisen eher auf Ablehnung, sie selbst war im Netz einem Shitstorm ausgeliefert und wurde mit Vergewaltigung bedroht. Warum ist es so schwierig, vernünftig über Geschlechtergewalt zu sprechen?

Dhawan: Meiner Ansicht nach ist es eine der größten Herausforderungen, über Gewalt zu sprechen, ohne sie zu reproduzieren. Ist es überhaupt möglich, nicht gewaltvoll über Gewalt zu sprechen? Und wenn nicht, ist es die Lösung, gar nicht über Gewalt zu sprechen, also zu schweigen? Ich muss gestehen, ich schrieb meine Dissertation über das Thema Schweigen und Gewalt, 360 Seiten! Ein gutes Beispiel für performativen Widerspruch! Ich glaube Nicht-Gewalt ist notwendig, aber unmöglich. So sollten wir weiter an Themen wie Geschlechtergewalt arbeiten, wissend, dass es keine schnellen Lösungen für diese sehr komplexen und herausfordernden Probleme gibt. Mich inspiriert dabei der italienische Denker Antonio Gramsci: Wenn wir Geschlechtergewalt beenden wollen, praktiziere ich "Pessimismus des Verstandes" und "Optimismus des Willens". (Tanja Paar, 8.3.2017)