Platon mit seinem Höhlengleichnis lässt von ferne grüßen: Die vier Tänzerinnen und Tänzer von Dewey Dell finden sich in der 1994 entdeckten Chauvet-Grotte wieder – und liefern choreografische "Echos" auf die Frühzeit des Menschen.


Foto: John Nguyen

Im Theaterraum hält sich geheimnisvolles Halbdunkel, eine imaginäre Zeitreise beginnt: 36.000 Jahre zurück ins Jungpaläolithikum, als die Malereien in der Höhle von Chauvet bei Vallon-Pont-d'Arc entstanden sind. Das neue Stück Sleep Technique der Tanz- und Performancecompany Dewey Dell, uraufgeführt vor kurzem in der Berliner Tanzfabrik, versetzt sein Publikum in ein beunruhigendes Zeit-Diskontinuum.

Wie bereits in früheren Arbeiten – etwa bei Marzo, gezeigt 2013 vom Steirischen Herbst – geht die vor zehn Jahren von Teodora, Agata und Demetrio Castellucci sowie Eugenio Resta gegründete Gruppe auch jetzt ästhetisch wie thematisch einen äußerst eigenwilligen Weg. Sleep Technique fügt der Wahrnehmung einen erst kaum merklichen Riss zu, der im Verlauf des Stücks immer tiefer und verzweigter wird.

Die Zuschauer glauben sich in die 1994 entdeckte Chauvet-Grotte versetzt, zugleich aber werden sie durch ein abstrahiertes Set-Design ständig daran erinnert, dass sie nur in eine Bühnenhöhle blicken. In diesem widersprüchlichen Bild entsteht sehr bald der Eindruck, dass Dewey Dell mit Platons Höhle spielt: Die vier Tänzerinnen und Tänzer (Agata und Teodora Castellucci mit Björn Ekemark und Enrico Ticconi) sind in ihrer Unterwelt gefangen. Schwach beleuchtet von einem fernen Licht, scheinen sie nur sich selbst und halluzinierte Schatten von Dingen, die selbst unsichtbar bleiben, wahrzunehmen.

Dazu passend bringt die Musik von Demetrio Castellucci und Massimo Pupillo Klangschächte und -echos ein, deren Heftigkeit an die künstlichen Höhlen von Clubs erinnert, in denen sich die Zeit in kalten Rhythmen verliert. Das öffnet jene Gelasse des Unbewussten, in denen archaische Emotionen und gegenwärtige Ängste flackern, das Bedrohliche von Dunkelheit, von Geräuschen, die von irgendwo hinten kommen, oder von uneinschätzbaren Situationen.

Zeitverdrehte Grotte

In Sleep Technique bewegt sich etwas alarmierend Unbestimmtes. Die vier Figuren in ihrer zeitverdrehten Grotte tragen Gewänder, die sowohl an prähistorische Skulpturen als auch an Gestalten aus dem antiken Theater und aus Science-Fiction-Filmen denken lassen. Und sie tanzen ein ironisches Ineinanderfließen von urtümlicher Ritualhaftigkeit, modernem Expressionismus, Postmoderne und Posieren wie auf antiken griechischen Vasen und barocken italienischen Gemälden.

Obwohl dieses Stück einer einfachen Dramaturgie folgt – in einer szenisch wechselnden Wanderung von Kammer zu Kammer der Chauvet-Höhle -, zeigt die Vielschichtigkeit der darin ins Spiel gebrachten Motive eine echte Komplexität: Sleep Technique handelt vom menschlichen Körper als Höhlensystem seiner eigenen Geschichte.

Darin schlafen Erinnerungen, die genetisch wie kulturell fortwährend präsent bleiben und die sich in die Zukunft schieben, ohne dass uns ihr Wirken bewusst wäre.

Getanzter Widerhall

Das Kollektiv Dewey Dell (der Name stammt aus Faulkners Roman As I Lay Dying) hat die rund 1000 Darstellungen von Tieren, Symbolen und Figuren in mehr als 400 Wandbildern der Chauvet-Höhle studiert und stellt in seiner Performance assoziative choreografische "Echos" davon her. Dieser getanzte Widerhall macht auch deutlich, wie sehr wir noch Gefangene unseres Unwissens über die Kulturen der menschlichen Frühzeit sind.

So ähnelt der "Blick von heute" jenem der in Platons Höhle Festgehaltenen – die paläolithischen Höhlenmalereien enthalten Rätsel, die zu immer neuen Lektüren mit sich weiterentwickelnden wissenschaftlichen Techniken auffordern.

Deren Ambivalenz zwischen dem Schlaf der Zeichen und dem hellwachen Drang nach Dekodierung fügt Dewey Dell die heutigen Techniken künstlerischer Ent- und Wiederverschlüsselung, Übersetzung und ästhetischer Interpretation hinzu. Sleep Technique ist nach seiner Folgepremiere im Essener Pact Zollverein auch bei Imagetanz im Brut-Theater zu sehen – am 24. und 25. März – und wird danach in Italien, Frankreich und Norwegen gezeigt. (Helmut Ploebst, 8.3.2017)