Wenn sich Ry Cooder ein Glasröhrchen, den Bottleneck, über den kleinen Finger der linken Hand stülpt, um über die Saiten einer Gitarre zu gleiten, stellen sich bei der Hörerschaft seit fast fünf Jahrzehnten wohlig die Nackenhaare auf. Am 15. März wird der Großmeister der Slidegitarre und unermüdliche Musikarchäologe 70 Jahre alt (eine ausführliche Würdigung gibt es hier zu lesen).

War mit Neil Young, Van Morrison, Captain Beefheart, Randy Newman und den Rolling Stones ebenso im Studio wie mit dem von ihm produzierten Buena Vista Social Club: Ry Cooder.
Foto: warner music

Interviews gibt er aus diesem Anlass zurzeit keine, ein hier erstmals zur Gänze veröffentlichtes Gespräch aus dem Jahr 2013 hat indessen an Aktualität kaum eingebüßt. Der Kalifornier mit ausgeprägtem Gespür für Verdrängtes, für musikalische wie gesellschaftliche Randzonen hatte damals gerade mit einem Studioalbum gegen Banker und Republikaner Stellung bezogen und einen Konzertmitschnitt ("Live in San Francisco") mit jungen mexikanischen Banda-Musikern veröffentlicht.

STANDARD: Ihr letztes Studioalbum "Election Special" kam 2012 während des US-Wahlkampfes raus, Obama wurde schließlich wiedergewählt. Sind die Dinge besser geworden?

Cooder: Die Frage ist schon die Antwort. Man braucht nur auf dieses Land schauen, die totale Militarisierung, das Raustreten aus dem Bereich von Verfassung und Gesetzen, die Verzerrung dessen, was legal ist und was nicht, das Privileg des Geldes. Das größte Problem ist die ungleiche Verteilung von Vermögen und Wohlstand. Das ist der neue Notfall in diesem Land und hat mit Rasse, der Klassenzugehörigkeit und dem Sozialsystem zu tun. Mit so einem Ungleichgewicht kann nichts besser werden. Den Reichen wird alles zu Füßen gelegt, einschließlich des Obersten Gerichtshofs. Es ist erbärmlich. Ich habe der Politik im Grunde abgeschworen. Meine chinesische Akupunkturärztin sagt mir immer, lass die Finger von der Politik, sie macht dich krank.

Ry Cooder interpretiert 1974 im Studio einen frühen Protestsong von Blind Alfred Reed: "How Can a Poor Man Stand Such Times and Live?"
Kevin Hunt

STANDARD: Ihre Musik liefert Geschichten, die die Menschen sonst nicht hören, vor allem nicht in den Nachrichten.

Cooder: Das stimmt. Die Musik, mit der ich aufwuchs, war eine Form geballter Information. Im frühen 20. Jahrhundert, schon davor und ganz sicher während der Depression hörten die Menschen Songs, aus denen sie Informationen bezogen und dann austauschten. Musik war ein Mittel der Selbstermächtigung. Ganz sicher trifft das für die Gewerkschaften und die Bürgerrechtsbewegung zu. Heute nicht so sehr. Musik ist eine Hintergrundangelegenheit geworden. Aber ich bin ein alter Mann, ich wuchs mit diesem Gedanken auf. Das war der Grund, warum ich diese Musik als kleines Kind mochte. Die Songs von Woody Guthrie über die Dust Bowl faszinierten mich und tun es noch immer. Wenn man mit so etwas im Sinn aufwächst, bleibt es einem und entwickelt sich. Es ist etwas, von dem ich glaube, dass auch ich es machen kann, und ich mach es gerne, solange es eine gute Geschichte ist.

STANDARD: Ein Song, den Sie im Laufe Ihrer Karriere immer wieder gecovert haben, ist Woody Guthries "Vigilante Man". Vor dem Hintergrund Ihrer jüngeren, mehr politischen Alben wirken solche Songs aktueller denn je, wie ein Kommentar zur gegenwärtigen Situation.

Cooder: Ja, in der Tat. Die Dinge ändern sich nicht sehr, sie bekommen nur neue Namen und Gesichter. "Vigilante Man" im Speziellen ist gerade jetzt ein frischer Song. Es gibt heute so viele Beispiele in unserem Land dafür. Selbstjustiz ist nicht weniger geworden, sondern mehr. Der Ku-Klux-Klan ist wieder höchst aktiv. Die ganze Trayvon-Martin-Geschichte (ein 17-jähriger afroamerikanischer Highschool-Schüler wurde 2012 von einem Nachbarschaftswachmann erschossen, Anm.) ist ein furchtbares Beispiel. Ich habe mehrere neue Strophen für "Vigilante Man" geschrieben. Man bringt den Song immer wieder auf den neuesten Stand, was zeigt, dass sich die Dinge nicht sehr ändern, wenn es um grundsätzliche Angelegenheiten wie Rasse und Gier geht. Wir wähnen uns in einer modernen Ära – das ist ein Scherz!

Bei seinen Konzerten in San Francisco 2011 kehrte Ry Cooder zu einem Song zurück, den er schon 1971 für sein zweites Studioalbum eingespielt hatte: "Vigilante Man".
dhia mejrissi

STANDARD: Könnte man Ihren Song "El Corrido de Jesse James", vor diesem Hintergrund auch als humorvolles Update von Outlaw-Songs wie jenen von Woody Guthrie interpretieren?

Cooder: Ja, sicher. Es gibt eine ganze Tradition an Outlaw-Songs. Der Outlaw wird dabei üblicherweise als jemand charakterisiert, der von Reichen stiehlt und es den Armen gibt. Das ist die Grundidee. In meinem Song aber kann es Jesse James nicht ausstehen, dass die Banken und die Regierung gemeinsame Sache machen: Die Bank beraubt die Leute, und die Regierung bezahlt sie dafür. Das ist nach Ansicht von Jesse James nicht in Ordnung. Es ist eine Sache, die Reichen zu bestehlen und es den Armen zu geben. Aber wenn die Reichen von den Armen stehlen, um sich selbst zu bereichern und die Regierung ihnen dabei auch noch hilft – das versteht jemand wie Jesse James nicht. Also habe ich mir vorgestellt, wie er im Himmel ist und seine Pistole zurückfordert, um auf die Erde zurückzukehren und die Dinge in Ordnung zu bringen. Von Mann zu Mann, wie es in seiner Zeit war. Aber jetzt ist alles sehr kompliziert geworden, er kommt damit nicht durch. Ich fand, das sei eine witzige Idee für einen Song. Und es gefiel mir, Jesse James mit Gott spanisch sprechen zu lassen.

STANDARD: Mexiko, die ganze lateinamerikanische Kultur hat in Ihrer Musik einen hohen Stellenwert.

Cooder: Ja, in Los Angeles findet man sie überall. Es wird hier wohl heute zu 50 Prozent spanisch gesprochen, das war auch immer so. Die Banda-Musik mit ihren Bläsern ist sehr populär, man hört sie in den hispanischen Radiostationen Tag und Nacht. Ich hörte sie, wenn unsere Haushälterin Berta bei uns arbeitet und das Radio aufdreht. Mir gefiel das. Also versuchte ich Leute zu finden, die das live spielen können. Zuerst habe ich es für das Album "San Patricio" mit den Chieftains ausprobiert, dann ein bisschen für "Pull Up Some Dust & Sit Down" und jetzt schließlich live.

Für sein letztes Album ließ sich Ry Cooder live von der Gruppe La Banda Juvenil unterstützen.
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STANDARD: Wenn die Gruppe La Banda Juvenil auf Ihrem Album "Live in San Francisco" einsetzt, reißt es einen richtiggehend vom Hocker.

Cooder: Banda schlägt so richtig ein und ist live hoch explosiv. Es ist so laut, wie man es nicht glauben würde. Ich habe schon vor ein paar Jahren versucht, eine Banda-Gruppe aufzutreiben. Man sieht viele große Banda-Bands mit ihren Bussen, die aber nicht mit Leuten wie mir spielen. Das ist eine eigene Welt, in der sie ganz strikt ihr Ding durchziehen. Aber hier in Los Angeles ist die Situation durchlässiger. Ich habe mich durchgefragt, und jemand hat mir diese jungen Typen ist East L.A. empfohlen. Sie haben in einer Bar gespielt. Meine Frau Susie und ich haben uns niedergesetzt, es waren vielleicht acht Leute im Publikum. Diese jungen Leute kommen ganz leger auf die Bühne und legen auf einmal los. Ich dachte, es reißt mir den Kopf ab! Ich konnte es nicht glauben, ich hatte noch nie akustische Musik gehört, die derart laut war. Verrückt!

Dann gehen sie wieder locker von der Bühne, und ich denke mir, ja, da lässt sich etwas machen. Ich habe sie am Parkplatz angesprochen, ob sie an meinem Projekt mit Paddy Moloney von den Chieftains, über den sie nichts wussten, mitmachen würden. Sie sagten okay und gaben mir ihre Telefonnummern. Im Studio kam ich drauf, dass sie zu laut sind, um sie alle auf einmal aufzunehmen. Sie nehmen immer nur zwei Bläser miteinander auf, nie alle zusammen. Als wir dann in der Great American Music Hall in San Francisco zusammen live auftraten, hatten die Leute dort, vor allem Weiße, so etwas noch nicht gehört, sie flippten richtig aus. Es ist wie ein Supercharger für einen Cadillac-Motor – wirklich gut!

STANDARD: Ein Musiker, mit dem Sie immer wieder zusammenspielen, ist Tex-Mex-Akkordeonist Flaco Jiménez.

Cooder: Ich liebe das Tex-Mex-Akkordeon, es ist mir wohl das liebste Ding auf der Welt. Es ist über 35 Jahre her, dass ich jemanden gesucht habe, der dieses Instrument mit mir spielen würde. Auch hier war es so, dass diese Musiker in Texas und Nordmexiko normalerweise nicht an andere Arten von Musik anstreifen. Aber Flaco war der eine, den ich dort unten getroffen hatte, der daran interessiert war. Er hatte bereits mit Doug Sahm gespielt. Und er wusste, dass es da draußen eine neue Welt gab und er etwas anderes ausprobieren wollte. Wir haben jetzt all diese Jahre miteinander musiziert. Er kennt alle diese Songs, hat sie tausende Male mit mir gespielt und aufgenommen. Er weiß ganz genau, was ich vorhabe, versteht die Grundidee, es ist leicht für ihn. Mittlerweile verfügt er über seinen ganz eigenen Akkordeonstil. Wenn er mit mir spielt, ist es nicht einmal mehr Norteño, sondern etwas Einzigartiges, fast wie klassische Musik, mit interessanten Akkorden, die er über die Jahre entwickelt hat. Wir hatten unser ganzes Leben Zeit, das auszuprobieren, also sind wir jetzt ganz gut damit.

Mit Conjunto-Pionier Flaco Jiménez verbindet Ry Cooder eine langjährige Freundschaft. 1975 traten sie gemeinsam im Rahmen der TV-Konzertreihe "Live in Austin" auf.
biamaku

STANDARD: Sie haben Blind Willie Johnsons "Dark Was the Night", zu dem Sie als Interpret immer wieder zurückgekehrt sind, einmal als das seelenvollste Stück in der amerikanischen Musikgeschichte beschrieben. Stimmt das nach wie vor für Sie?

Cooder: So etwas sagt man meistens, wenn man gebeten wird, ein einzelnes Stück auszuwählen. "Dark Was the Night" ist aber tatsächlich einzigartig. Es ist kein offensichtlicher Gospel-, Blues-, oder Hillbillysong, scheint in keine dieser Kategorien zu passen. Der Sound wirkt wie eine Art Meditation. Wenn man über interessante Musik spricht, die aufgenommen wurde, kenne ich nichts annähernd Vergleichbares. Das gilt auch für Willie selbst, er ist eine Klasse für sich, niemand klang wie er. Es gibt nur wenige, die auf Aufnahmen so rüberkommen wie er. Sein Talent ist so groß, dass er allein dasteht. Louis Armstrong ist ein anderer. Aber es gibt nur wenige in dieser Liga, man kann sie auf den Fingern von zwei Händen abzählen. Das ist die Schönheit von Platten, dass diese Aufnahmen weiterleben. Was auf Platten aufgenommen wurde, manchmal durch Zufall, stirbt nie, sondern bleibt für immer.

Für Ry Cooder ein einsamer Höhepunkt aufgenommener Musik: Blind Willie Johnsons "Dark Was the Night", das er u. a. für den Soundtrack von "Paris, Texas" neu einspielte.
Jazz Everyday!

STANDARD: Ihr jüngstes Album ist auch auf Vinyl erhältlich, viele sprechen derzeit von einer Vinyl-Renaissance.

Cooder: Vinyl ist immer noch das Beste, wenn auch ein Nischenmarkt. Wenn ich mir meine Alben anhören will, höre ich sie auf Vinyl. Das ist kein Vergleich mit CDs, einem schrecklichen Format, furchtbar und unbefriedigend. Ich hoffe, die jungen Leute geben sich nicht nur mit Downloads und dem Hören auf dem iPhone zufrieden, was völlig idiotisch ist. Aber das ist eine andere Geschichte …

"Chicken Skin Music" 1977 gastierte Ry Cooder mit Flaco Jiménez und den Sängern Bobby King und Terry Evans in der BBC-Reihe "Grey Old Whistle Test".
Terry Brainard

STANDARD: Sie sind für einen markanten, mitunter mit Tremolo angereicherten Gitarrensound bekannt. Wie erreichen Sie das, arbeiten Sie mit Effektpedalen?

Cooder: Nein, nein, keine Pedale! Sie würgen, mit wenigen Ausnahmen, die Obertöne ab. Wenn man eine gut klingende Gitarre mit guten Tonabnehmern, einen guten Verstärker mit, ganz wichtig, guten Lautsprechern hat – darauf kommt es an. Die Ohren weisen einem den Weg. Da die Gitarre ein primitives Instrument ist, kann man auf ihr machen, was immer man will. Und das machen wir alle, deswegen klingen wir alle anders: Jeder erzeugt den Sound, zu dem er imstande ist. (Karl Gedlicka, 15.3.2017)