Zwischen Exzess und Eskapismus: Jutta Voigt hat die Künstlerschaft der DDR über Jahrzehnte miterlebt. Hier im Café Espresso – ein Zufluchtsort der Ostboheme.

Foto: Aufbau-Verlag / Arwid Lagenpunsch

Wien – Man trug das Schwarz der französischen Existenzialisten, rauchte Roth-Händle oder Gauloises und ertrank sich literweise in ungarischem Stierblut, dem besten aller schlechten Rotweine, die im Ostblock aufzutreiben waren. Die Journalistin Jutta Voigt hat der vergessenen Boheme der DDR, die sich abseits von Staatskunst und offener Regimekritik dem inneren Exodus hingegeben hatte, ein Erinnerungsbuch gewidmet. Ein rauschend-poetischer Abgesang auf jene Subkultur, die sich im repressiven Gleichmacherstaat über die Sehnsucht nach Bürgerlichkeit und Individualismus definierte.

1941 in Berlin geboren, hat Voigt, die sich in Stierblutjahre Madleen nennt, alle Phasen der Ostboheme mitgemacht. Wie im Rausch lässt die Autorin Namen und Gesichter, Künstlercafés in Ostberlin und Dresdner Untergrundjazzkeller, ausschweifende Gelage, Moden, Debatten und den obligatorischen Galgenhumor am Leser vorüberziehen.

Parallelwelten in Altbauten

Ein Leben als Bohemien habe sich dank niedriger Lebenshaltungskosten leicht einrichten lassen, schreibt Voigt. "Existenzängste im simplen Sinn gab es nicht. Der Erfolg maß sich nicht am Geld. Erfolg war der Luxus, ein freies Leben führen zu können." Freilich wurden Dekadenz und Hedonismus rasch verdächtig. "Die Funktionäre ahnten, dass ihre Angst vor der Überlegenheit der Künstler und Intellektuellen durchschaut wurde, das machte sie aggressiv." Die Aufbruchsstimmung der 1950er- und 1960er-Jahre, in denen man sich auf Geistesgrößen wie Bertolt Brecht verständigen konnte, wurde jäh gebrochen.

"Die Verkümmerung des Kommunismus zur preußischen Vorschrift", wie Voigt formuliert, kam 1965: "Stellvertretend für die Auseinandersetzung über die Reform der Wirtschaft fand ein Massaker der Künste statt." Filme, Bücher, Stücke und Bands eines ganzen Jahrgangs wurden unterdrückt und verboten. Der Liedermacher Wolf Biermann wurde mit Auftrittsverbot belegt. Die Boheme provoziert durch Normverstöße in der Lebensführung, Avantgarden hingegen erschrecken durch Normverstöße in der Kunst. Biermann war Letzteres.

In den 1970er-Jahren vollzog die DDR-Führung schließlich den radikalen Selbstbetrug: "Keine Tabus für Kunst und Literatur", versprach SED-Chef Erich Honecker 1971, nur fünf Jahre später wurde Wolf Biermann aus dem Land geschmissen – andere, wie Thomas Brasch oder Katharina Thalbach, gingen von selbst in den Westen. Je näher der Unrechtsstaat an die Künstler heranrückte, desto hermetischer igelte sich die Boheme in Parallelwelten ein – in den heruntergekommenen Altbauten in Prenzlauer Berg oder auf Schloss Hoppenrade, wo man sich zwischen dekadenter Weltflucht à la 1900 und Hippiekommune den eigenen Traum vom Sozialismus zimmerte.

Jutta Voigt beschreibt all das multiperspektivisch und spart auch nicht mit Selbstkritik – dem "permanent schlechten Gewissen" etwa, selbst zu wenig für die Änderung der Verhältnisse getan zu haben. In der Frage, was geblieben sei von der Boheme des Ostens, stellt Voigt zwei Namen in den Raum: Regieberserker Frank Castorf (vielleicht) und Sven Marquardt, einst Punk und Fotograf, heute Türsteher des Berliner Technotempels Berghain. Dort also, wo man die Schönheit des (Er)Lebens noch heute in Exzess und Verfall zu finden hofft. (Stefan Weiss, 10.3.2017)