Präsentierte fünf Szenarien für die Zukunft der EU: Jean-Claude Juncker

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Wenn am 25. März die Staats- und Regierungschefs der EU an jenen geschichtsträchtigen Ort zurückkehren, an dem exakt 60 Jahre zuvor der Startschuss für ein bislang einzigartiges Friedens- und Wohlstandsprojekt gefallen ist, steht selbiges vor seiner wohl härtesten Bewährungsprobe. Die "Römischen Verträge" institutionalisierten damals die Idee, die zentralen kontinentaleuropäischen Antagonisten beider Weltkriege mittels zunehmend dichterer vor allem wirtschaftlicher Kooperationsmechanismen eng aneinander zu binden. Neuerliche kriegerische Auseinandersetzungen sollten damit praktisch unmöglich gemacht werden. Deutschland und Frankreich bildeten dementsprechend den Mittel- und Ausgangspunkt für ein Wagnis, welches sich derart erfolgreich entwickelte, dass sich dieser "immer engeren Union der Völker Europas" in Folge 26 weitere Nationen angeschlossen haben.

So wie die Gemeinschaft über die Jahrzehnte in ihren Kernbereichen prosperierte, so schwer tat sie sich jedoch stets, ihre offenkundigen Erfolge für die Öffentlichkeit nachvollziehbar zu vermarkten. Die stillschweigende Zustimmung der breiten Masse erodierte daraufhin zusehends und eine ganze Reihe negativer Referenden brachte den politischen Integrationsprozess 2005 schließlich endgültig zum Erliegen.

Sündenbock EU

Die Welt drehte sich aber weiter und stellte die EU vor neue Herausforderungen, denen sie, ob ihrer institutionellen Trägheit und bröckelnden Legitimität, plötzlich nicht mehr adäquat zu antworten imstande war. Beispielhaft können hier die Finanz- und Migrationskrise angeführt werden – zwei überaus heikle Konfliktfelder, in welchen einige Mitgliedstaaten zum einen das notwendige Maß an Solidarität und Verhandlungsbereitschaft vermissen ließen und zum anderen sogar noch die Impertinenz besaßen, den Schwarzen Peter für den politischen Stillstand ausgerechnet Brüssel zuzuschieben.

Dieses über viele Jahre exerzierte Verhalten vieler politischer Amtsträger perpetuierte schließlich die Wahrnehmung der EU als Wurzel allen Übels. Was mit graduell wachsendem Skeptizismus Einzelner begonnen hat, entwickelt sich momentan über zunehmende desintegrative Prozesse geradewegs zum Zerfall der Union. Ein Pfad, der zwar seit einiger Zeit vorgezeichnet, zum Glück aber noch nicht bis zum Ende beschritten wurde.

Eine historische Chance

2017 stehen wir jedenfalls vor einer ganzen Reihe neuer Weggabelungen: Wenn Marine Le Pen in Frankreich selbst nach der Stichwahl die Oberhand behält, erübrigt sich jegliche Spekulation über eine gemeinsame Zukunftsperspektive. Sofern aber die (rechts-) radikalen Parteien klein gehalten und die proeuropäischen Kräfte die kommenden Wahlen gewinnen werden – beides scheint nach einigen rezenten Umfragen ziemlich wahrscheinlich – müssen die 27 verbleibenden EU-Mitglieder ihre vermutlich letzte Chance für gemeinsame Reformen nützen.

Den ersten Schritt zur erhofften Trendwende hat nun jedenfalls die Kommission gesetzt: in ihrem 32-seitigen Weißbuch erläutert sie, wie die EU im Jahr 2025 aussehen könnte. Die fünf in diesem Rahmen dargestellten Szenarien reichen dabei von einem Rückbau der EU einerseits, bis zur Gründung eines faktischen Föderalstaates andererseits.

Die fünf Szenarien

Nachdem Kommissionspräsident Juncker sein lange angekündigtes Diskussionspapier Anfang März erstmals vor dem Europäischen Parlament vorgestellt hat, wurden unter anderem Stimmen laut, der Text sei zu unkonkret. Dieser Kritik muss allerdings zumindest zweierlei vehement entgegengehalten werden: Erstens hätte die Festlegung auf ein einziges Szenario die Verhandlungsposition der Kommission gegenüber den mitgliedstaatlichen Akteuren natürlich beträchtlich eingeschränkt und zweitens ist sich Junckers Team sehr wohl über die politische Machbarkeit seiner verschiedenen Vorschläge im Klaren.

Angesichts der Tatsache, dass Szenario eins ("weiter wie bisher") natürlich keine so notwendige Kursänderung bewirken würde, die Szenarien zwei ("Schwerpunkt Binnenmarkt") und vier ("weniger aber effizienter") den originären Interessen der Kommission eigentlich sogar entgegenliefen und Szenario fünf ("viel mehr gemeinsames Handeln") momentan keinesfalls mehrheitsfähig ist, bleibt eigentlich nur Szenario drei ("wer mehr will, tut mehr") übrig. Das lässt sich zwischen den Zeilen lesen und wird auch von Kommissionsquellen insgeheim bestätigt.

"Form follows function"-Strategie?

Einigte sich der Europäische Rat (wahrscheinlich Ende des Jahres) tatsächlich auf ein "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten", könnte das tatsächlich ein probates Mittel sein, den Stillstand in einigen Politikbereichen zu beenden. Zu Beginn würde sich die verstärkte sektorale Zusammenarbeit zwar jeweils nur auf eine begrenzte Zahl integrationswilliger Mitgliedsstaaten beschränken und nicht gerade dazu beitragen, die Abläufe innerhalb der Union transparenter zu gestalten. Sofern sich diese vertiefte Zusammenarbeit zum Beispiel in der Verteidigungs- und Migrationspolitik aber nach einiger Zeit als Segen herausstellen sollte, wäre das ein riesiger Anreiz, die europäische Idee allgemein auf eine höhere Stufe zu stellen. Ähnliches hat bereits seit den Römischen Verträgen mehrfach ausgezeichnet funktioniert und könnte im Sinne einer "Form follows function"-Strategie zweifellos wieder funktionieren. (Michael C. Wolf, 10.3.2017)