Wien – "Hände einstützen", ruft Sissy, und alle stemmen ihre Hände in die Hüften. So geht’s aufs Eis, in Zweierreihe, 16 Personen insgesamt, elf von ihnen mit mentaler Beeinträchtigung, fünf Begleiterinnen und Begleiter, sogenannte "Unified Partner". "Süß" sei das, sagt Sissy, zumindest klingt es so, doch süß schreibt sich SYS und kürzt Synchronized Skating ab. Bei den Special Olympics in Graz, Schladming-Rohrmoos und Ramsau, die am 18. März eröffnet werden, hat Österreichs Eiskunstlaufteam etwas ganz Besonderes vor. SYS steht nämlich noch nicht auf dem Programm der Spiele für Menschen mit mentaler und mehrfacher Behinderung. Die Österreicher laufen sozusagen demonstrativ und hoffen, dass ihr Vorschlag angenommen und SYS aufgenommen wird.

Die Herausforderung: "Im Takt bleiben und dieselbe Bewegung machen."

Der Radetzkymarsch ertönt, er hat noch nie geschadet. Auch in der Halle 3 des Eissportzentrums in Wien-Kagran wird jetzt rhythmisch geklatscht, aus Freude und zur Unterstützung. "Für Unsere", sagt Sissy, "ist es wirklich nicht leicht, im Takt zu bleiben und gleichzeitig dieselbe Bewegung zu machen." Doch die gut drei Minuten lange Übung gelingt zur vollen Zufriedenheit, auch das schwierige "Rad" am Ende, in dem die 16 eine lange Kette bilden, die sich flott in einem großen Kreis dreht, stellt kein Problem da.

Ein Lokalaugenschein in der Halle 3 des Eissportzentrums in Wien-Kagran.
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Sissy heißt mit vollem Namen Elisabeth Sieber und ist die gute Seele des Special-Olympics-Eiskunstlaufs. Seit mehr als zwanzig Jahren hat sie in der Eissportvereinigung Favoriten, kurz: bei den Eisfavoriten, die Sparte Behindertensport geleitet und sich im Training oder bei Wettkämpfen unermüdlich um das Team gekümmert. Sie war selbst Eistänzerin, ihr Mann war internationaler Preisrichter. Ausschlaggebend für ihr spezielles Engagement war die Behinderung ihrer Tochter Marion, die mit Down Syndrom zur Welt kam. Marion war im Unified Eistanz, mit einem nicht beeinträchtigen Partner also, bei den Special Olympics 2001 (Anchorage) und 2005 (Nagano) erfolgreich. Dann hörte sie auf, nun gibt sie im SYS-Team ein Comeback.

Die Wortwahl: "Das heißt doch nichts, besondere Bedürfnisse haben ja alle."

"Ich bin 78", sagt Mama Sieber, "ich muss schön langsam kürzertreten." Und deshalb ist sie froh, dass Maria Ullmann auf den Plan getreten ist. Auch Ullmann, die sich nun des Trainings und der Organisation angenommen hat, hat eine Tochter mit mentaler Beeinträchtigung. Bei Viktoria hat sich die linke Gehirnhälfte kaum entwickelt, was eine sprachliche wie motorische Verzögerung zur Folge hatte. Mit dem Terminus "behindert" haben übrigens weder Sieber noch Ullmann ein Problem, beide verwenden das Wort selbst immer wieder, Sieber sagt: "Wenn’s nach der Political Correctness geht, darf man ja fast nur noch von Menschen mit besonderen Bedürfnissen reden. Aber das heißt doch eigentlich gar nichts, besondere Bedürfnisse haben ja praktisch alle."

Viktoria Ullmann (24) ist eine von fünf Frauen aus Wien, die in Graz in den Solobewerben für Österreich aufs Eis gehen. Wie Nora Schwarz (46), Brigitte Hartmann (56) und Lidija Kovu (42) tritt sie in der Level-2-Klasse an. Die sechs Levels richten sich nach dem Grad der Beeinträchtigung und also des Könnens, im Level 1 ist die Beeinträchtigung am schwersten, im Level 6 am geringsten. In den einzelnen Gruppen wird, so genügend TeilnehmerInnen gemeldet sind, zusätzlich in Altersklassen eingeteilt. Für Level 2 gibt es bei den Damen allerdings nicht viele Nennungen, ergo muss Viktoria wohl in derselben Gruppe wie ihre doch routinierteren Kolleginnen laufen.

Fünf Damen auf Eis, bereit für die Special Olympics: Anna-Maria Manolakas, Brigitte Hartmann, Nora Schwarz, Lidija Kovu und Viktoria Ullmann.
Foto: Heribert Corn
Österreichs größte Hoffnungsträgerin: die 25-jährige Anna-Maria Manolakas.
Foto: Heribert Corn
Elisabeth Sieber (links) und Maria Ullmann, die guten Seelen des Special-Olympics-Eiskunstlaufs.
Foto: Sarah Brugner

Als größte Hoffnung gilt so oder so Anna-Maria Manolakas (25). Ihre Performance auf Level 4 beinhaltet diverse Sprünge und Pirouetten. In jedem Level sind gewisse Übungen zu zeigen, Level 2 etwa verlangt diverse Bremsvarianten, Laufschritte rückwärts und vorwärts, Umdrehen, Übersteigen im Achter sowie zwei kleine Sprünge, den Frosch und das Pferdchen. Und natürlich den Fisch! Der Fisch ist – wie auch bei Kindern, die das Eislaufen lernen – die Grundübung. Die Schlittschuhe formen ihn, erst stehen sie nebeneinander, dann gleiten sie auseinander, um nach ungefähr einem Meter wieder zusammenzukommen. Flossen hat er natürlich keine, aber "der Fisch" klingt in dem Zusammenhang halt einfach besser als "das Ei". Der Fisch kommt auch bei der Darbietung des Synchronteams vor, und vor jedem Fisch zählen im Takt alle mit: "Sieben, acht, Fisch."

Der Eid: "Wenn ich nicht gewinnen kann, lasst mich mutig mein Bestes geben!"

Für die fünf Wienerinnen und den einen Wiener – Erich Stepanek (48) hat das Training an diesem Tag ausnahmsweise ausgelassen – ist das Dabeisein wichtig, aber nicht alles. Die Special Olympics sind, was etwa den offiziellen Eid angeht, wahrscheinlich sogar ehrlicher als die Olympischen Spiele. "Lasst mich gewinnen", heißt es da recht unverblümt, "doch wenn ich nicht gewinnen kann, lasst mich mutig mein Bestes geben!"

Zum zweiten Mal nach 1993 finden die Special Olympics in der Steiermark statt. 2700 Athleten aus 107 Nationen nehmen teil, 1100 Trainer und 3000 Freiwillige Helfer sind im Einsatz. Neun Sportarten stehen auf dem Programm: Eiskunstlauf, Eisschnelllauf, Floor Hockey, Floorball, Schneeschuhlauf, Ski Alpin, Ski Nordisch, Snowboard und Stocksport. Es handelt sich um die elfte Auflage der seit 1977 alle vier Jahre ausgetragenen Winterspiele, Sommerspiele (seit 1968) gab es schon 14 Mal.

Gegründet wurde die Bewegung von Eunice Kennedy-Shriver, einer Schwester von John F. Kennedy. Ihre ältere Schwester Rosemary war nach einer vom Vater angeordneten Lobotomie schwer behindert. Arnold Schwarzenegger, Ex-Schwiegersohn von Eunice Kennedy, hat sich oft für die Special Olympics starkgemacht, er wird als Stargast in der Steiermark erwartet – wie Helene Fischer, die bei der Eröffnungs- und eine Woche später bei der Schlussfeier singt.

Gemeinsames Training im Synchronized Skating.
Foto: Heribert Corn
Auch die feierliche Verabschiedung will geprobt werden.
Foto: Heribert Corn

Die fünf Eisläuferinnen in Kagran werden üblicherweise öffentlich kaum wahrgenommen. Heuer war alles anders. Da haben Firmen, die Special Olympics sponsern, scharenweise Mitarbeiter zum Mittrainieren aufs Eis geschickt, da sind Journalisten und Fotografen in die Halle gekommen. Vor den Spielen stehen noch etliche Termine an. Der dem olympischen nachempfundene Fackellauf wird am Dienstag beim DC Tower in der Wiener Donaucity beobachtet, dann gibt noch der Pfarrer der Donaufelder Kirche der Delegation seinen Segen, am Ende wird das Team von Bürgermeister Michael Häupl persönlich verabschiedet.

Die Musikwahl: Von "Lambada" über "Thriller" zu "Rise Like A Phoenix".

Die Aufregung ist jetzt schon groß, und sie wird vorort noch größer werden. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern geht es durchaus ums Gewinnen. In Kagran gibt fast jede Läuferin als Ziel eine Medaille an. Ehrgeizig sind sie alle, fast jede hat einen eigenen Trainer, die eine Bezugsperson ist sehr wichtig. Jedes der circa zweiminütigen Programme ist eigens choreografiert, jede Läuferin hat sich eine spezielle Musikbegleitung ausgesucht. Lidija läuft zu "Lambada", Nora zu "Blueberry Hill", Viktoria zum Zillertaler Hochzeitsmarsch, Brigitte zu Jacksons "Thriller" und Anna-Maria zu "Rise Like A Phoenix" von Conchita Wurst.

Darauf, was die anderen tun, wird oft mit Argusaugen geschaut, Gleichberechtigung und Gleichbehandlung sind die oberste Prämisse. Natürlich sind nicht alle gleich. Sie sind nicht gleich groß, nicht gleich alt, sie sind unterschiedlich beeinträchtigt. Anna-Maria, die hoffnungsvolle Level-4-Läuferin, hat sogar einen fixen Job in einem Pensionistenheim. Lidija und Brigitte haben eigene Wohnungen, für Nora gibt es "Betreutes Wohnen", Viktoria und Erich leben bei den Eltern.

Was sie verbindet, ist die Liebe zum Sport – und zum Training. Trainiert wird ein- oder zweimal wöchentlich, jedenfalls jeden Mittwoch in Kagran, pausiert wird nur im August. "Neue sind jederzeit willkommen", sagt Maria Ullmann. Die Special Olympics werden kommen und gehen, das Training wird bleiben. Sissy wird "Hände einstützen" rufen und manchmal "Sauhaufen" hinzufügen, damit Ruhe einkehrt. Und dann werden sich in Kagran wieder die Fische, die Frösche und die Pferdchen tummeln. (Fritz Neumann, 13.3.2017)