Keine Provokation, sondern Gewissensfreiheit? Mag sein, eine solche Argumentation muss natürlich auch in die andere Richtung gelten.

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Die religiöse Praxis der Muslime ist vor allem durch die sogenannten fünf Säulen des Islams (neben dem Glaubensbekenntnis das rituelle Gebet, das Fasten im Ramadan, die soziale Pflichtabgabe und die Pilgerfahrt nach Mekka) definiert. Das Tragen des Kopftuches gehört nicht zu diesen fünf Säulen. Daher diskutieren Gelehrte heute darüber, ob es sich hierbei um einen religiösen oder nur einen sozialen Aspekt handelt. Die islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich hat die Aufgabe, die Muslime in Österreich über die verschiedenen, auch zeitgenössischen, Positionen innerhalb der islamischen Lehre und deren Argumente aufzuklären und den Musliminnen und Muslimen dann selbst zu überlassen, sich für die eine oder andere Position zu entscheiden.

Das Selbstbestimmungsrecht ist ein unveräußerliches Gut eines jeden Muslims und es muss ein Anliegen der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) sein, dieses zu schützen. In ihrer Fatwa (Rechtsgutachten) über das Tragen des Kopftuches geht die IGGiÖ selektiv vor, denn es werden nicht alle islamischen Positionen dargelegt. Die IGGiÖ erklärt vielmehr das Kopftuch zum Fard (streng verpflichtend), wie das rituelle Gebet oder das Fasten. Wer sich nach islamischem Glauben nicht an einen Fard hält, muss mit einer diesseitigen und/oder jenseitigen Strafe durch Gott rechnen. Daher ist diese Position der IGGiÖ eine implizierte Erpressung der Gläubigen mit dem großen Risiko, sie von ihrem Glauben abzubringen, indem man ihnen suggeriert, sie seien Frevler und große Sünder, wenn sie keine Kopftücher tragen und ihre Töchter und Frauen nicht dazu verpflichten.

Radikale Positionen

Das Gutachten zitiert auch radikale Positionen innerhalb der islamischen Lehre, die noch weiter gehen und sogar auch in der Gesichtsverschleierung ein religiöses Gebot sehen. Auch wenn das Gutachten von dieser extremen Position abrät, bleibt die Frage, warum dieses nicht auch die gemäßigten Positionen zitiert. Einer der bekanntesten und anerkanntesten zeitgenössischen muslimischen Gelehrten im Westen ist der in den USA wirkende Professor Khaled Abou El Fadl. Dieser sieht im Kopftuch gerade in nicht-islamischen Ländern, in denen muslimische Frauen wegen des Tragens des Kopftuchs benachteiligt werden könnten, explizit keine Pflicht und im Nichttragen keine Sünde. Er begründet dies damit, dass der Grund, wofür das Kopftuch zur Zeit des Propheten geboten war, heute in westlichen und vielen weiteren Gesellschaften nicht mehr gegeben ist, nämlich der Schutz der Musliminnen vor Belästigung und davor, dass sie in der Gesellschaft auffallen.

Im Gegenteil, sagt Abou El Fadl, gerade das Kopftuch verursache, dass Frauen, die es tragen, stärker Belästigungen ausgesetzt sind und erst recht dadurch auffielen. Er sieht im Tragen des Kopftuches keineswegs ein zentrales religiöses Gebot im Islam, für dessen Einhalten es sich lohnen würde, das Risiko einzugehen, benachteiligt zu werden. Er beruft sich unter anderem auf die koranische Aussage: "Prophet! Sprich zu deinen Frauen und deinen Töchtern und zu den Frauen der Muslime, sie sollen ihre Übergewänder reichlich über sich ziehen. So ist es am ehesten gewährleistet, dass sie dann erkannt und nicht belästigt werden. Und Gott ist allverzeihend, barmherzig" (Koran 33:59).

Zur Zeit des Propheten Mohammed war das Kopftuch ein Unterscheidungsmerkmal zwischen freien Frauen und Sklavinnen; nur freie Frauen durften ein Kopftuch tragen, nicht jedoch Sklavinnen. Letzteren war es also verboten, ein Kopftuch zu tragen. Abou El Fadl sieht daher im Kopftuch lediglich eine soziale Funktion, die damals der Unterscheidung zwischen freien Frauen und Sklavinnen diente. Er erinnert daran, dass das Kopftuch in der Verkündigung des Propheten erst ein Jahr vor dessen Tod überhaupt Thema war und plädiert daher für ein differenziertes Verständnis davon. Jede Frau soll für sich in ihrer jeweiligen Situation entscheiden, ob das Kopftuch für sie wichtig ist oder nicht.

Diese und ähnliche islamische Positionen werden im Gutachten der IGGiÖ einfach ignoriert, den Gläubigen vorenthalten und somit suggeriert, es gäbe im Islam eine einheitliche Position zur Frage des Kopftuches. Durch die einseitige Parteinahme für eine bestimmte Position wird das Kopftuch pauschal zum streng verpflichtenden Gebot erklärt. Dies lässt Musliminnen keine Wahl mehr. Kein Kopftuch würde nach diesem Gutachten heißen, dass die Frau, die kein Kopftuch trägt, in großer Sünde leben würde und dass ihre Religiosität defizitär sei. Nimmt man an, dass etwa 75 Prozent der muslimischen Frauen in Österreich kein Kopftuch tragen, dann führt diese "Schubladisierung" muslimischer Frauen durch das Gutachten der IGGiÖ dazu, die Mehrheit der in Österreich lebenden Musliminnen als schlechte Gläubige zu diffamieren.

Auf diese Spaltung der Muslime können wir getrost verzichten. Außerdem stehen heute viel wichtigere Themen zur Debatte. Dazu gehört die Frage nach der Emanzipation muslimischer Frauen von der Bevormundung durch männliche Gelehrte, die die Frau auf ein sexuelles Objekt reduzieren und meinen, ihnen vorschreiben zu können, wie sie sich anzuziehen haben. Es ist Zeit, dass muslimische Frauen die Stimme erheben und solchen archaischen Vorstellungen eine Absage zu erteilen. (Mouhannad Khorchide, 10.3.2017)