Karl Abraham, ein Pionier der Psychoanalyse, beschrieb den Fall eines Patienten, der in den ersten Lebensjahren "der Liebling der Eltern, der älteren Schwester und der Kinderfrau" gewesen war. Kurz nachdem ihn die Mutter in seinem dritten Lebensjahr abgestillt hatte, kam es zu "eine[r] Reihe von Ereignissen, die den Knaben plötzlich seines Paradieses beraubten": Die Schwester starb, die Mutter wurde depressiv und zog sich vom Patienten zurück, die Kinderfrau verließ die Familie.

Als Jugendlicher "verlor der Patient seinen Vater und lebte nun mit der Mutter, der er jetzt [wieder] liebevoll zugetan war. Aber nach kurzer Witwenschaft heiratete die Mutter und ging mit ihrem Mann für längere Zeit auf Reisen. Sie stieß damit die Liebe des Sohnes aufs Neue von sich ab".

Als die Mutter im Sterben lag, "weilte er während ihrer letzten Krankheit bei ihr und hielt die Sterbende in seinen Armen [...] eine Umkehrung der unvergessenen Situation, in welcher der Patient als kleines Kind in den Armen und an der Brust der Mutter gelegen hatte. Kaum war die Mutter gestorben, so eilte der Sohn in die Stadt, in welcher er sonst lebte, zurück. Seine Affektlage aber war keineswegs die eines Trauernden, sondern gehoben, glückselig. Er schildert, wie er vom Gefühl beherrscht war, die Mutter nun für immer und unverlierbar in sich zu tragen."¹

Der Mechanismus der Verlustverarbeitung

Karl Abraham entwickelt hier, in einer geradezu poetischen Sprache, die psychoanalytische Theorie der Identifizierung – als Mechanismus der Verlustverarbeitung. Abrahams Patient reagiert auf den Verlust der Mutter indem er sich mit ihr identifiziert, sich die Mutter buchstäblich "einverleibt": Er trägt "die Mutter nun für immer und unverlierbar in sich". Identifizierung bedeutet hier zugleich Rückzug ins Innere: In Reaktion auf den Verlust des geliebten Objekts zieht sich das Subjekt auf die Bühne seines Inneren zurück – und wechselt dabei die Rolle: Da er sich die Mutter "einverleibt" hat, ist er selbst zur Mutter geworden, ist nun also selbst das geliebte Objekt. Er liebt nicht mehr, sondern wird geliebt. Und zwar von sich selbst.

Auf Kosten des Interesses an der realen Welt

Identifizierungen gehen daher, um mit Freud zu sprechen, stets mit einer Zunahme an narzisstischer Libido auf Kosten von Objektlibido einher. In unsere Alltagssprache übersetzt: Es kommt zu einer Zunahme an Selbstachtung und Selbstwertgefühl auf Kosten des Interesses an der real existierenden Außenwelt. Nach dem Motto: "Ich habe nun das Objekt meiner Liebe unverlierbar in mir. Das macht mich stark, weil unabhängig von der Welt da draußen".

In den ersten beiden Folgen dieser Blogserie war die Rede von der afroamerikanischen Autorin Debra Dickersen, die Obama 2007 das "Schwarz-Sein" abgesprochen hatte, denn "'schwarz'", so Dickersen, "heißt in unserer politischen und sozialen Realität, dass jemand von westafrikanischen Sklaven abstammt". Diese identitätspolitische Rede von der Abstammung "echter" schwarzer US-Amerikaner von westafrikanischen Sklaven, bringt gegen die entwürdigende, rassistische Identifizierung aller Schwarzen als "nigger" eine "positive" Identität in Stellung. Lesen wir diese Rede vor dem Hintergrund der Thesen Abrahams und Freuds, lässt sich jene Würde, die den Schwarzen in den USA vorenthalten wurde und wird, als immer schon verlorenes "äußeres Objekt" auffassen, das hier zu einem inneren Objekt wird, mit dem sich Dickersen und andere "echte" schwarze US-Amerikaner identifizieren – und das den Namen "Abstammung von westafrikanischen Sklaven" trägt.

Wie jede Identität verlagert auch jene, die auf der Identifizierung mit der "Abstammung von westafrikanischen Sklaven" gründet, das Interesse der Subjekte von der realen Außenwelt auf das imaginäre Innere. Dort bietet sie dem Subjekt – als Ersatz für das draußen, in der gesellschaftlichen Realität, fehlende Objekt "Würde" – ein imaginäres inneres Objekt an, mit dem es sich identifizieren kann und das seine Selbstachtung stärkt. Das Subjekt selbst wird, anders gesagt, zu jener Würde, die es, in den Augen der rassistischen Gesellschaft, nicht hat.

"Rettet den Islam!"

"Unsere Ehre wurde mit Füßen getreten, Irans Größe und Ehre ist verloren. [...] Das Parlament hat ein Gesetz verabschiedet, das allen amerikanischen Militärberatern samt [...] ihren Hausangestellten, welches Verbrechen sie auch immer begehen mögen, Immunität zuspricht. Nun ist das iranische Volk weniger wert als amerikanische Hunde [...] Wenn der iranische Kaiser einen amerikanischen Hund überfährt, wird er zur Rechenschaft gezogen. Überfährt ein amerikanischer Koch den Kaiser [...] hat niemand das Recht, zu protestieren [...] Ihr Führer des Islam, der Islam ist in Gefahr. Rettet den Islam!" (vom Autor übersetzt).²

Ein iranischer Soldat vor einem Bildnis Ayatollah Khomeinis.
Foto: APA/AFP/Atta Kenare

In dieser Passage seiner berühmten Rede vom 26. Oktober 1964 beklagte der spätere Führer der islamischen Revolution, Ruhollah Khomeini, die Verabschiedung eines Gesetzes, das US-Militärberatern eine Art diplomatische Immunität zusprach, sofern das in Frage stehende Delikt in Ausübung ihres Dienstes begangen wurde.

Am selben Tag veröffentlichte Khomeini ein Kommuniqué:

"Die Welt soll wissen, dass an allen Problemen des iranischen Volkes und anderer islamischer Völker die Ausländer [sic] schuld sind – die Ausländer, und die Amerikaner. Das iranische Volk hasst Ausländer im allgemeinen und Amerikaner im besonderen" (vom Autor übersetzt).³

Der Begriff, den Khomeini hier für jenes Objekt verwendet, dessen Verlust er beklagt beziehungsweise befürchtet – "Ezzat" –, hat einen weiteren Bedeutungsumfang als es die deutsche Übersetzung "Ehre" vermuten lässt. Eine Umschreibung, die diesen Bedeutungsumfang in etwa wiedergeben würde, wäre: "Der Glanz der die Macht/den Mächtigen umgibt".

Die verlorene Ehre

Die Klage des Islamisten Khomeini ist prototypisch für die Weltsicht aller Islamisten. Es ist die Klage über den Verlust, oder den drohenden Verlust der Macht und der "Herrlichkeit" des Islam. Beruht die Identität der "echten Schwarzen" im Sinne Dickersens auf der Identifizierung mit dem verlorenen Objekt "Würde", so gründet die Identität des Islamisten auf seiner Identifizierung mit dem verlorenen Objekt "Ehre", im Sinne der "Herrlichkeit der Macht" des Islam. Und es sind die Ungläubigen, der Kolonialismus, der US-Imperialismus, der globale Kapitalismus et cetera, die in seinen Augen diese Ehre mit Füßen treten.

"Amerika ist schlimmer als England, England ist schlimmer als Amerika, die Sowjetunion ist schlimmer als alle anderen, alle sind schlimmer als alle anderen [sic!] ... alle unsere Probleme sind von Amerika gemacht, alle unsere Probleme sind von Israel gemacht. Israel gehört zu Amerika (vom Autor übersetzt)"⁴, sagt Khomeini an einer anderen Stelle der zitierten Rede.

Der Islamist, dem das Objekt "Ehre des Islam" in der Gegenwart verloren erscheint – verloren oder beschädigt oder bedroht – und da er mit "dem Islam" identifiziert ist, seine eigene Ehre, identifiziert sich in Reaktion auf diesen Verlust, mit dem frühen Islam. Jenem vermeintlich goldenen Zeitalter, in dem er die unbeschädigte "Herrlichkeit der Macht" des Islam noch in Kraft sieht. (Sama Maani, 14.3.2017)

Fortsetzung folgt.

¹ Karl Abraham, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen, Leipzig – Wien – Zürich 1924, S. 28 f.

² Die persische Wikipedia-Seite enthält Passagen aus Khomeinis Rede und Kommuniqué: https://fa.wikipedia.org/wiki/کاپیتولاسیون_در_ایران

³ Ebd.

⁴ Ebd.

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