Wien – Laut UNESCO ist heute die Hälfte der rund 6.000 weltweit existierenden Sprachen vom Verschwinden bedroht. Eine Möglichkeit, zumindest einen Teil davon zu erhalten, besteht darin, die Dynamik hinter einem Sprachwechsel zu verstehen. Mit Hilfe der Physik haben nun Wiener Wissenschafter am Beispiel des Slowenischen in Südkärnten die Ausbreitung bzw. Rückgang einer Sprache untersucht. Ihr Ergebnis: Zahl und Interaktion der Sprecher sind entscheidender als etwa die in einem Ort gesprochene Sprache.

Wie sich Teilchen, etwa Atome, über eine bestimmte Zeit in einem Raum ausbreiten, können Physiker mit sogenannten Diffusionsmodellen berechnen. Solche Modelle lassen sich aber auch auf andere Phänomene außerhalb der Physik anwenden, etwa wenn es um die Ausbreitung von Lebewesen, Krankheiten oder Gerüchten geht. Der Physiker Gero Vogl von der Universität Wien hat vor einigen Jahren mit einem solchen Modell beispielsweise berechnet, wie sich das bei Allergikern gefürchtete Ragweed durch den Klimawandel in Österreich und Bayern ausbreiten wird.

Kleinräumige Veränderungen im Sprachgebrauch

Wenn entsprechende Daten vorliegen, kann man damit auch untersuchen, was zu einem Sprachwechsel führt, wenn also Personen ihre Sprache zugunsten einer anderen aufgeben. Das hat nun die Linguistin und Physikerin Katharina Prochazka gemeinsam mit Vogl untersucht und die Ergebnisse im Fachjournal "Pnas" veröffentlicht. Sie verwendeten dazu Angaben aus Volkszählungen über die Umgangssprache in Südkärnten aus den Zeiträumen 1880-1910 und 1971-2001. Mit Hilfe der angewandten Untersuchungsmethode können die Forscher sehr kleinräumige Veränderungen im Sprachgebrauch nachvollziehen, gleichzeitig aber auch das gesamte Gebiet erfassen und beschreiben.

"Unsere Computersimulationen zeigen, dass die Zahl der Sprecher in einem Ort und die Möglichkeit zur Interaktion mit anderen Menschen, die dieselbe Sprache sprechen, wesentliche Faktoren für den Spracherhalt bzw. den Sprachewechsel sind", sagte Prochazka. Die Forscherin räumt ein, dass dies ein auf der Hand liegendes Ergebnis sei, "aber wir konnten das erstmals mathematisch zeigen". Und das sei in der Linguistik nicht selbstverständlich. Dort wisse man oft einigermaßen, was Einfluss haben könnte, aber nachweisen könne man es nur schwer.

Mindestzahl an Sprechern

Die Simulation zeigte weiters, dass es ein Minimum an interagierenden Sprechern einer Sprache in einem Ort bzw. Gegend geben muss, damit die Sprache erhalten bleibt. "Es gibt aber keine magische Zahl oder Grenze, ab der man sagen kann, dass eine Sprache ausstirbt", so Prochazka. Die in den Pfarren gesprochene Sprache hat dagegen nur geringen Einfluss auf einen Sprachwechsel, ebenso die Unterrichtssprache an den Schulen, wobei dieser Aspekt nur für die Monarchiezeit untersucht wurde.

Städtische Gebiete dürften bei der Entwicklung eine eigene Dynamik haben: So verschwand zwischen 1880 und 1910 Slowenisch in größeren Städten in der Realität schneller als es das Modell vorhersagt. Dagegen stieg zwischen 1971 und 2001 die Zahl der Slowenisch sprechenden Personen in urbanen Gebieten tatsächlich rascher als im Modell. "Offensichtlich wird Sprache hier wieder als identitätsstiftendes Merkmal gesehen und das Bewusstsein steigt, dass Mehrsprachigkeit kein Nachteil ist, sondern viele Möglichkeiten eröffnet", sagte Prochazka.

Die Wissenschafterin hat Linguistik und Physik studiert und untersucht derzeit im Rahmen ihres Doktorats an der Fakultät für Physik die Ausbreitung von Sprachen. In einem nächsten Schritt will sie anhand der deutschen Minderheit in Ungarn überprüfen, ob das Modell auch bei anderen Sprachen funktioniert. (APA, red, 14.3.2017)