"Man wird dich töten", "Man wird dich entführen", "Bist du verrückt?!": Die Einheimischen im Süden Kameruns schreien einem die Warnung förmlich ins Gesicht, wenn man erwähnt, dass man in die Region Extrême-Nord fahren will, genauer gesagt in das Mandara-Gebirge. Dieser an Nigeria angrenzende vulkanische Gebirgszug mit seinen charakteristischen Basaltspitzen, die wie kleine Pyramiden aus dem Boden wachsen, beherbergt eine faszinierende Trekking-Region mit traditionellen Dörfern und den für Afrika so typisch bunten Märkten.

Literaturnobelpreisträger André Gide hatte diese Gegend einst als eine der schönsten Landschaften der Welt bezeichnet. Nun schütteln aber selbst die etwas sachlicheren Kameruner entschieden den Kopf und meinen: "No-go-Area. Sehr schön, aber im Moment wegen Boko Haram unmöglich." Ich fahre trotzdem hin. Auch wenn ich persönlich auf meinen Reisen fast ausschließlich positive Erfahrungen gemacht habe, kann man manche Regionen inklusive des Mandara-Gebirges nicht bedingungslos empfehlen (siehe Wissen).

Foto: Christoph Bachmair

Das Risiko Boko Haram

Wenn man die Möglichkeiten von Boko Haram nüchtern betrachtet, dann bleibt das Risiko in den dünn besiedelten Bergregionen äußerst gering. Falls man das heute, in einer Welt nach 9/11, nach den Anschlägen in Paris, Brüssel oder Berlin, überhaupt noch sagen kann. Aber vielleicht ist es auch wichtig, genau das zu sagen. Trotz aller Anschläge und Attacken haben Terroristen nur beschränkte Möglichkeiten. Sie sind daher darauf angewiesen, mit der Angst der Zivilbevölkerung zu operieren, um erfolgreich zu sein. Das ist bei Boko Haram nicht anders als beim IS. So gesehen, bedeutet jedes einzelne ängstliche Opfer einen kleinen Triumph für den Terrorismus.

In Kamerun funktioniert das Geschäft mit der Angst besonders gut. So erzählen Einheimische, dass entlang der Ring-Road-Gegend im Westen Kameruns Kinder nach einem Anschlag tagelang von der Schule fern blieben. Der Anschlag fand allerdings 500 Kilometer von der Ring Road entfernt statt und Boko Haram war dort noch nie aktiv.

Foto: Christoph Bachmair

Die um sich greifende Panik resultiert aus einer Kombination aus schlechtem Bildungsniveau und extrem hoher Korruption im Land, die das Vertrauen in Politik, Polizei und Militär nachhaltig zerstört hat. Staatsoberhaupt Paul Biya, dem die Opposition schon mehrmals Wahlbetrug vorgeworfen hat, ist über 80 Jahre alt und schon seit 1982 amtierender Präsident Kameruns. Er zählt damit zu den am längsten dienenden Staatsoberhäupter der Welt. In einem Land, in dem das Durchschnittsalter der Bevölkerung rund 20 Jahre beträgt, bedeutet das, dass die große Mehrheit der Einwohner sich an die Zeit vor Präsident Biya nicht erinnern kann. Auch wenn Biya nicht ewig leben wird, wird allgemein befürchtet, dass die Macht lediglich an einen Getreuen aus seinem engsten Kreis übergeben wird.

In das Mandara-Gebirge

Mit dem Bus geht es in Richtung des Mandara-Gebirges, die meisten Straßen dort sind gut asphaltiert. Dabei kommt man an mehreren Sicherheits-Checkpoints vorbei. Die Checkpoints sind für Afrika nicht ungewöhnlich, in Kamerun gibt es aber besonders viele. Da im Normalfall aber nur Busse, Sammeltaxis und LKWs angehalten werden, nicht aber Fußgänger, Motorräder oder Privatautos, die auf einen einflussreichen Besitzer schließen lassen, erhöhen die Kontrollpunkte weder die Sicherheit, noch das Sicherheitsempfinden. Es geht nur um den Vorweis einer ID-Karte und darum, dass die Offiziellen ein kleines Bestechungsgeld kassieren können, sollte jemand ohne Papiere unterwegs sein. Die Absurdität der Kontrollen wird noch erhöht, wenn man weiß, dass die Kontrollen meist nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr stattfinden. Denn dann machen auch die Sicherheitskräfte Feierabend.

Als Maßnahmen gegen potenzielle Attentäter dürfen LKW-Fahrer keine Autostopper mehr mitnehmen und Busunternehmen sind verpflichtet, mit Metalldetektoren das Gepäck der Reisenden zu überprüfen – offiziell. Das funktioniert aber in der Praxis überhaupt nicht. Jeder schlecht bezahlte LKW-Fahrer nimmt dankbar über eine kleine finanzielle Entschädigung Anhalter mit und Gepäckskontrollen finden so gut wie nicht statt. Da vor allem Minibusse stark überfüllt sind, ist das Ein- und Aussteigen bei jedem Checkpoint eine kleine logistische Herausforderung und strapaziert die Nerven, aber die Einheimischen haben sich mit der Situation sowie mit allen anderen Unannehmlichkeiten längst abgefunden.

Land mit großem Potenzial

Menschen, die eine positivere Zukunft für Kamerun erwarten, trifft man kaum. Dabei hätte das Land großes touristisches Potenzial: Nationalparks mit Löwen, Elefanten oder Gorillas, Wanderregionen, traditionelle, kleine Königreiche – die Fondoms – in denen die Zeit stillzustehen scheint, und ein paar atemberaubend schöne und ebenfalls wenig besuchte Strandabschnitte. Der fangfrische, gegrillte Fisch, mit Kräutern mariniert und Maniok oder Kochbananenchips serviert, ist legendär. Zudem gab es in Kamerun seit der Unabhängigkeit 1960 keinen kriegerischen Konflikt mehr, die gewalttätige Kriminalität ist äußerst gering und als Europäer wird man fast immer bevorzugt behandelt.

Foto: Christoph Bachmair

An den meisten Tagen fährt nur ein öffentlicher Kleinbus von der Bezirkshauptstadt Mokolo in das gut 50 Kilometer entfernte Rhumsiki, den touristischen Hauptort des Mandara-Gebirges. Daher bewältigt man die finale Etappe der Anreise am raschesten mit dem Motorradtaxi, direkt entlang der nigerianischen Grenze. Grenzkontrollen gibt es hier nicht. Das ansässige Volk der Kapsiki, das sich weitgehend der Islamisierung widersetzt hat, bewegt sich frei zwischen Kamerun und Nigeria, um Freunde und Verwandte zu treffen, oder lokale Märkte zu besuchen. Seit Boko Haram aktiv wurde, hat aber der grenzüberschreitende Handel in der nördlichen Provinz Kameruns stark gelitten.

Willkommensgrüße

Am Ortseingang von Rhumsiki wartet bereits der Ortschef. Es ist nicht ganz klar, ob er zufällig von meinem Besuch erfahren hat, er ist aber sehr erfreut und lädt mich ein über Nacht zu bleiben. Kein Wunder, findet sich doch entlang der Straße eine Vielzahl vollkommen leerstehender kleiner Hotels. Früher besuchten tausende Touristen den Ort, um von dort ausgehend Wanderungen zu unternehmen. Doch das ist alles vorbei, seit 2013 eine französische Familie etwa 50 Kilometer von Rhumsiki entfernt entführt und zwei Monate lang festgehalten wurde. Die dringend benötigte Einnahmequelle ist versiegt. Der Terrorismus hat den Tourismus zerstört. Angeblich gab es seit damals keinen einzigen Touristen mehr. Nur ein optimistischer, pensionierter Holländer hatte sich von den unbeschäftigten Wanderführern eine einfache Unterkunft mit vermietbaren Zimmern bauen lassen, wurde aber kurz vor der Fertigstellung von der lokalen Polizei vertrieben.

Die Einwohner von Rhumsiki sind erfreut, endlich wieder einen Touristen zu sehen. Einige kommen persönlich vorbei, um ein paar Freundlichkeiten auszutauschen. Europäische Besucher sind hier noch gut in Erinnerung, so geht das beschauliche Leben bald wieder seinen normalen Gang. Frauen in Rhumsiki betreiben oft im Kollektiv Landwirtschaft oder kleine Verkaufsstände, Männer transportieren vielfach Waren oder Personen auf ihren Motorrädern, treiben Viehherden vor sich her, oder sitzen in Kleingruppen zusammen und lassen diskutierend den Tag verstreichen.

Foto: Christoph Bachmair

Wanderungen und großes Aufsehen

Die Halbtageswanderung, die ich mithilfe eines lokalen Guides absolviere, führt durch eine Hügellandschaft, vorbei an kleinen mit Stroh oder Wellblech gedeckten Lehm- und Steinhütten in ein Nachbardorf, in dem Markttag ist. Von ringsum strömen die bunt gekleideten Menschen zusammen, kaufen und verkaufen Allerlei – Geschirr, Kleidung, Batterien, Getreide, Nägel, Alkohol. Die Dorfbewohner tauschen Neuigkeiten aus und reichen Holzschüsseln mit Hirsebier weiter. Als erster Besucher seit langem sorge ich natürlich für Aufsehen, auch wenn ich nur von wenigen Menschen direkt angesprochen werde.

Eine ältere Frau nähert sich enthusiastisch und schüttelt mir die Hand. Nachdem ich ihr zu verstehen gebe, dass ich ihr kein kleines Plastiksäckchen mit 30 Milliliter eingeschweißtem Vodka, Rum oder Baileys abkaufen werde, nimmt ihre Euphorie schnell wieder ab und sie kehrt an ihren Platz zurück. Ein lokaler Künstler verschenkt aus Dankbarkeit wieder einen Touristen zu sehen, eine qualitativ hochwertige, traditionelle Holzschnitzerei. Fast metaphorisch wartet in seinem Atelier ein eineinhalb Meter großes Holzkreuz mit Christusfigur noch immer auf den letzten Feinschliff. Etwas ungewöhnlich erscheint der Wunsch eines übereifrigen Marktbesuchers, der meinen Reisepass kontrollieren will. Er murmelt etwas von Boko Haram und einem kleinen, aber doch vorhandenen Sicherheitsrisiko.

Foto: Christoph Bachmair

Keine Terroristen, nur Frieden

Wie sich herausstellt, geht es dabei nicht um meine Sicherheit, sondern darum, dass Weiße hier teilweise Bedenken auslösen. Hintergrund ist, dass sich in Zentralafrika ein Handelskrieg zwischen Frankreich und China intensiviert, in dem zunehmend China die Oberhand gewinnt. In Nigeria und Kamerun geht das Gerücht um, dass französische Lobbys, oder sogar die französische Regierung selbst, Boko Haram mit Waffen beliefern, um die Region zu destabilisieren und Frankreich dann zum Schutz Militär stationieren darf. "Unter Sarkozy haben sich die Beziehungen mit Frankreich zum Schlechteren verändert", sagt ein Student. Seine Meinung wird von sehr vielen Kamerunern quer durch alle Bildungs- und Einkommensschichten geteilt. Die Situation mit dem selbsternannten Passkontrollor lässt sich rasch zum Wohlgefallen aller klären und bleibt als Anekdote in Erinnerung.

Zurück in Rhumsiki klingt der Abend mit frischen Maisfladen und über offenem Feuer zubereiteten Ndole aus, dem Nationalgericht Kameruns, am ehesten mit einem Mangold-Eintopf vergleichbar. Nachdem das letzte Sonnenlicht verschwunden ist, rundet der strahlende Sternenhimmel unter dem ich schlafe den Besuch einer beeindruckenden Region ab. Keine Spur von Terroristen, nur Frieden. (Christoph Bachmair, 17.3.2017)