Vor ein paar Wochen, erzählt Laurel Brennan, hat sich ihr fünfjähriger Sohn an Glasscherben geschnitten. Es war an einem Freitagabend, seine Hände bluteten, sie musste mit ihm in die Notaufnahme, wo die Wunden genäht wurden. "Wir haben vier Stunden gewartet, bis wir dran waren, und hinterher mussten wir 300 Dollar zahlen, weil wir die Dienste der Notaufnahme in Anspruch genommen hatten." So stehe es im Kleingedruckten ihrer Krankenversicherung, erklärt Brennan.

Es ist eine normale Geschichte aus dem medizinischen Alltag Amerikas. Wohl jeder, der an diesem Abend zum Bürgerforum in die größte Kirche der Kleinstadt Westminster gekommen ist, wüsste Ähnliches zu berichten. Die St. Paul's Church ist gerammelt voll, es geht um ein Thema, das den Leuten unter den Nägeln brennt: Der Wechsel von Obamacare zu Trumpcare, von der Gesundheitsreform Barack Obamas zur Reform der Reform, wie Donald Trump sie in Angriff genommen hat.

Auch Kritik an Obamacare

Laurel Brennan, dreifache Mutter, von Beruf Therapeutin, skizziert zunächst den Status quo. Auch der, sagt sie, lasse zu wünschen übrig, wenn man es mit anderen Ländern vergleiche. Es folgt eine Story aus dem Paris des Jahres 1995, wo sie sich an der Hand verletzte. In der Klinik machten sie eine Röntgenaufnahme, die Wunde wurde geklammert, "nach 45 Minuten war ich wieder draußen. Und nach Geld hat keiner gefragt."

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Demonstrationen in Vista, Kalifornien gegen das Gesetz, mit dem die Republikaner und deren Fraktionschef Paul Ryan die Gesundheitsreform von Expräsident Barack Obama ersetzen wollen.
Foto: REUTERS/Mike Blake

Die Crux sei eben, glaubt Laurel Brennan, dass sich im US-Gesundheitssystem alles ums Geschäft drehe. Dann rechnet sie vor, was ihr Haushalt, zwei Erwachsene, drei Kinder, zu berappen habe. 1.400 Dollar pro Monat für die Krankenversicherung, womit allerdings noch lange nicht alles abgedeckt sei. Der jährliche Selbstbehalt liege bei 9.000 Dollar: Erst wenn die Summe in der Addition der Arztrechnungen erreicht sei, greife die Versicherung. "Im Grunde zahlen wir monatlich 1.400 Dollar für das Privileg, dass wir dann noch mehr zahlen dürfen", bringt es Laurels Mann Mel sarkastisch auf den Punkt.

"Wenn du die Polizei rufst, kommt doch auch niemand auf die Idee, dich als Erstes nach der Nummer deiner Kreditkarte zu fragen. Wenn es brennt, fällt doch auch keinem ein, erst mal deine Zahlungsfähigkeit zu überprüfen, bevor die Feuerwehr einen Löschzug ausrücken lässt." Aber bei etwas derart Elementarem wie der Gesundheit akzeptiere man es. Obamacare, fügt Mel Brennan hinzu, sei auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. "Aber besser ein Tropfen als nichts."

Umstrittener Entwurf der Republikaner

Über Trumpcare wird derzeit im Parlament verhandelt. Manches kann sich noch ändern, doch der aktuelle Entwurf der Republikaner lässt Obamas Paket auf einmal in deutlich besserem Licht dastehen. Es sei wie mit einem klapprigen Auto, das immerhin fahre, skizziert es Laurel Brennan. Bei der Alternative wisse man nicht, ob sie überhaupt Räder habe. Die American Medical Association, eine Ärztevereinigung, lehnt das neue Gesetz auch deshalb ab, weil der Staat die Subventionen zurückfährt, die es Geringverdienern ermöglichen, eine Polizze zu erwerben. Nach Schätzungen des Budgetbüros des US-Kongresses könnten allein im nächsten Jahr 14 Millionen Menschen ihren Versicherungsschutz verlieren. Bis 2026 wären es womöglich 24 Millionen, vier Millionen mehr als die Zahl derer, die dank Obamacare erstmals krankenversichert sind.

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Unter dem American Health Care Act, den die Republikaner kürzlich vorstellten, drohen Millionen US-Amerikaner ihren Versicherungsschutz zu verlieren.
Foto: AP Photo/Susan Walsh

Für viele dürften sich die ohnehin schon drastisch gestiegenen Beiträge noch weiter erhöhen, statt wie von Trump versprochen spürbar zu sinken. Um zu verhindern, dass gesunde Gutverdiener der Solidargemeinschaft der Krankenversicherten fernbleiben, wurden Letztere bisher mit empfindlichen Steueraufschlägen zur Kasse gebeten, falls sie keine Polizze besaßen. Nun soll die Strafe entfallen, was wohl zur Folge hat, dass die Solidargemeinschaft kleiner wird – und die durchschnittliche Prämie, vor allem für Ältere, teurer.

Nervosität und Sorge

In Westminster hat sich Kelly Gordon an ein Mikrofon gestellt, eine drahtige Großmutter, die sich Sorgen macht um ihren zweijährigen Enkel. Der Junge leidet an Mukoviszidose, einer Stoffwechselerkrankung. Mit Trumpcare, fürchtet Gordon, könnte irgendwann zurückkehren, womit Obama aufgeräumt hat: Limits für Kosten, die ein Versicherungskonzern im Laufe eines Patientenlebens zu übernehmen bereit ist. Im Falle ihres Enkels, schätzt Gordon, basierend auf früheren Erfahrungen, dürfte die Grenze bei fünf Millionen Dollar liegen. Bei einem Mukoviszidosekranken werde es nicht lang dauern, bis sie erreicht sei. "Und was dann? Müssen seine Eltern ihr Haus verkaufen? Schlittern wir alle in den Bankrott?"

Julianne Edwards spricht von der Lotterie des Lebens. "Es ist noch nicht lange her, da war auch ich eine junge Unbesiegbare", beginnt sie ihre Geschichte. "Young Invincible" heißt das auf Englisch; der Modebegriff umreißt, wie unbekümmert Amerikaner in den Zwanzigern und frühen Dreißigern die Welt sehen. Julianne Edwards hatte ihr Jurastudium gerade abgeschlossen, als es eines Tages heftig in ihrem Bauch zu schmerzen begann. Kurz darauf stellten Ärzte die Diagnose: Darmkrebs. Nach Chemotherapie und Operation schien es zwei Jahre lang so, als hätte sie den Krebs besiegt, bis er vor wenigen Wochen zurückkehrte. "Sie können sich vorstellen, wie nervös ich bin", sagt Julianne Edwards – und meint das politische Umfeld.

Schließlich ist Sarah Lowe an der Reihe, ihr Freund schiebt den Rollstuhl, in dem sie sitzt, nach vorn. Die Mittzwanzigerin leidet an einer seltenen Gewebekrankheit und muss praktisch jede Woche zu einem Arzt – "zu Neurologen, Rheumatologen, Kardiologen, Orthopäden, Psychologen", zählt sie im Stakkatotempo auf.

Sarah Lowe leidet an einer seltenen Gewebekrankheit und weiß nicht, was unter Trumpcare auf sie zukommt.
Foto: herrmann

Da sie keiner geregelten Arbeit nachgehen kann, springt Medicaid ein, das steuerfinanzierte Gesundheitsprogramm für sozial Schwache. Nach den Bestimmungen von Trumpcare aber wird der Fiskus einfrieren oder gar reduzieren, was Medicaid an Zuschüssen erhält. Sie wisse noch nicht, was auf sie zukomme, aber Grund zum Optimismus habe sie nicht, sagt Sarah Lowe. (Frank Herrmann aus Westminster, Maryland, 15.3.2017)