Trümmer von Flüchtlingsbooten und zahllose Rettungswesten auf der griechischen Insel Lesbos. Pakistanische Schneider basteln aus den Westen Rucksäcke und Handtaschen.

Foto: AFP / Louisa Gouliamaki

Sie sind die nicht so "Verwundbaren", nicht so Bedürftigen im Jargon der Asylbürokratie: die jungen Männer aus Afrika, Asien oder dem Nahen Osten, die sich auf eigene Faust nach Griechenland durchgeschlagen haben. Sie müssen noch länger in den Lagern warten, noch länger in Zelten überwintern, anders als Kinder ohne Eltern, alleinstehende Frauen, die Schwerkranken unter den Flüchtlingen. Doch jetzt versagt Israel Obiagwu, dem hochgewachsenen Mann aus Nigeria, schon nach den ersten Sätzen seiner Rede die Stimme.

Deman Güler, der türkische Anwalt, der gerade mit der Fähre aus Dikili von der türkischen Küste nach Lesbos gekommen ist und neben Obiagwu auf dem Panel sitzt, legt seinen Arm um den Redner. Man gibt ihm ein Wasserglas, spricht ihm Mut zu.

Nicht dass der Sprecher der Nigerianer im Flüchtlingslager von Moria, dem größten der Internierungslager auf den griechischen Inseln, seine Geschichte nicht schon öfters erzählt hätte. Seine Rekrutierung als Kind für eine Milizgruppe im Norden Nigerias, seine Flucht, die Ermordung der Eltern durch die Milizionäre als Rache. "Meine Geschichte ist nichts Besonderes", sagt Obiagwu schließlich. Die Asylbeamten im Lager interessiere sie nicht. "Sie haben meinem Fall keinen Glauben geschenkt", sagt der junge Mann. Es ist mehr als ein bürokratischer Akt, so versteht man plötzlich. Die Geschichte des Israel Obiagwu wird ausgelöscht mit einem Tastendruck im Bürocontainer der Asylbeamten.

Nach Nationalität sortiert

Ein Jahr ist das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei nun alt. Am 18. März 2016 unterzeichnet, seit 20. März in Kraft. Wer nach jenem Stichtag als Flüchtling auf eine der griechischen Inseln gelangt, der steckt fest. Sortiert wird nach Nationalität. Syrische Flüchtlinge kommen schneller dran beim Asylverfahren, Afghanen, Pakistaner, Afrikaner gar haben von vornherein kaum eine Chance. Und zurückgeschickt in die Türkei werden sie theoretisch alle. Die Syrer zumindest sollen dort bleiben. Nicht einmal auf dem Papier hat das bisher funktioniert. Ein Großteil der Flüchtlinge vegetiert seit zehn, zwölf Monaten in den überfüllten Lagern.

"Ich habe ein Jahr mit der Reise in die Türkei verbracht", erzählt Israel Obiagwu an diesem Abend, an dem sich Flüchtlinge und Helfer zur ersten "Volksversammlung" in einem Hotel in Mytilini, der Hauptstadt der Insel Lesbos, einfinden. "Ich bin durch Wüsten und Flüsse gegangen", erzählt der Nigerianer mit abgehackter Stimme, "und nun wird uns hier unser Leben weggenommen."

"Die Mehrheit ist passiv geworden"

Die humanitären Helfer stellen zunehmend psychologische Schäden fest. "Die große Mehrheit ist passiv geworden", sagt Strato Stavilidis über die Flüchtlinge auf Lesbos. "Den ganzen Tag ist jemand da, der ihnen sagt, was sie tun sollen. In der Schlange stehen für die Essensausgabe, in der Schlange stehen beim Arzt, bei der Verteilung von Kleidung. Sie verlieren langsam ihre Persönlichkeit."

Stavilidis arbeitet in einem privat organisierten Haus für Flüchtlinge im Zentrum von Mytilini. "Mosaik" heißt es. 700 Flüchtlinge haben sich für Kurse eingeschrieben, 700 weitere stehen auf der Warteliste. Es gibt Klassen für Sprachunterricht, Gitarrenkurse, selbst Meditationsübungen.

Im Keller des Hauses sitzen zwei Schneider aus Pakistan an Nähmaschinen und machen aus den Rettungswesten von der Überfahrt nach Lesbos Rucksäcke und Handtaschen. Es gibt immer noch tausende von diesen Westen auf der Insel. Beide Schneider sind in der ersten Instanz des Asylverfahrens gescheitert. Jetzt warten sie weiter.

"Sicherer Drittstaat"

Nur wenige hundert Migranten sind seit dem Abkommen vom März 2016 in die Türkei zurückgebracht worden, 151 waren es seit Dezember vergangenen Jahres. Viele freiwillig, weil sie das Lagerleben auf den Inseln nicht mehr ertragen haben – und noch kein Einziger auf der Grundlage der "Inadmissibilität": weil der Asylantrag mit der Begründung abgelehnt worden wäre, dass die Türkei ja ein sicherer Drittstaat wäre.

Salem al-Hamed, der Sprecher der 3.000 syrischen Flüchtlinge, kann darüber nur den Kopf schütteln. "Die Türkei ist Selbstmord", sagt er. Al-Hamed erzählt vom Gefängnis und dem Schmiergeld, das er zahlte. Am Samstag, zum Jahrestag, planen die Flüchtlinge einen Protestmarsch auf Lesbos. (Markus Bernath aus Mytilini, 17.3.2017)