Anne Weber, "Kirio". € 20,60 / 220 Seiten. Verlag S. Fischer, Frankfurt/Main 2017

cover: s. fischer-verlag

Wer bin ich? Vielleicht wird sich das im Laufe der Geschichte herausstellen. Im Moment wüsste ich es selbst nicht mit Gewissheit zu sagen." Mit diesen Worten beginnt der neue Roman von Anne Weber.

Wer hier spricht, ist die Erzählerin selbst. Doch nicht nur sie ist ein seltsames Wesen, sondern auch die Hauptfigur: Kirio heißt er. Das Licht der Welt hat er in einem Autobahntunnel erblickt. Wundersames gibt es über ihn schon als Kind und Heranwachsenden zu berichten, dessen blondes Haar ähnlich wie beim Struwwelpeter absteht.

Mit staunendem Blick wandert er durch die Welt, was wiederum seine Mitmenschen in Staunen versetzt. Doch das Seltsamste an Kirio ist seine Lieblingsart, sich fortzubewegen: Er erfindet sozusagen das Rad neu. Wo und wann immer es geht, bewegt er sich Rad schlagend fort.

Nun berichteten schon der Philosoph Platon und der Komödiendichter Aristophanes von Wesen, die weder Mann noch Frauen seien, sondern androgyne "Kugelmenschen": Sie bewegten sich Rad schlagend fort. Ein drittes Geschlecht also, das selbst dem Göttervater Zeus Kopfzerbrechen machte.

Welt auf dem Kopf

Zudem kann "cirio" im Spanischen "Wirrwarr", "Durcheinander" bedeuten – und dies alles erzeugt Kirio ohne Unterlass. Seine Lehrer im Lycée bringt er in Rage. Denn sie denken, dass er die ganze Schule in Aufruhr versetzen möchte. Einzig der Lateinlehrer begegnet Kirio mit Sympathie.

Der gelehrte Schulmeister vermutet hinter Kirios Rad schlagender Fortbewegungsmethode ein geistiges oppositionelles Verhalten gegenüber der Weltgeschichte: nichts als Umstürze, Revolutionen und Kriege. Die Überzahl der Menschen hungerte, während eine kleine Minderheit die Reichtümer der Erde kontrolliere. Da kann man ja nur depressiv werden!

Nein, Kirio mache es einem vor, wie es – im wahrsten Sinn des Wortes! – anders "läuft". – "Wer sich auf den Kopf stellt, stellt im selben Augenblick die Welt auf den Kopf, er befördert, was oben ist, nach unten und umgekehrt. Alle Pyramiden stehen fortan auf der Spitze", doziert der Studienrat. Die freundschaftliche Nähe des Lateinlehrers zu Kirio wie auch seine akademische und zugleich herzliche Beurteilung von dessen seltsamem Verhalten gehören sicher zu den schönsten Stellen in Anne Webers Roman.

Kirio verlässt die Schule und geht auf Wanderschaft. Eine Zeitlang verbirgt er sich im Wald, wohnt in einer Höhle und spricht mit den Tieren. Ein Einsiedler, der an den heiligen Franziskus gemahnt. Über Umwege gelangt er sodann in die Seine-Metropole.

Anne Webers seltsamer Held fühlt sich im hektischen Paris genauso wohl wie in der beschaulichen Natur. Er hat sogar ein Stammlokal, in dem ihm die meisten Gäste am Tresen freundschaftlich begegnen. Sicher, Kirio ist wundersam, aber er tut immer wieder kleine Wunder, die zum Guten führen.

Der Einsiedler

Zu diesem Thema stellt die Autorin (oder die Erzählerin?) eine bemerkenswerte Überlegung an: "Wenn jemand einen Überschuss an Bösem in sich trägt, kann man darin unter Umständen eine Krankheit sehen, die behandelt werden sollte. Ein Überschuss an Gutem ist aber keine Krankheit!"

Nein, ein Mensch, der Gutes tut, ist nicht krank. Es kann aber sein, dass man ihn in der materialistischen und egozentrischen Welt, in der wir leben, für einen Idioten hält. Kirio ist das alles egal, er tut Gutes meist im Vorübergehen, macht kein Aufhebens. Selbst bei seinem größten Wunder, bei dem er die Zeit zurückdreht, um Menschenleben zu retten, passiert das alles wie en passant, wie im Vorübergehen beim Radschlagen.

Und wie geht die Geschichte aus? – "Der eine sagt hü, der andere hott in diesem Märchenplot." Hinter diesem schönen Satz verbirgt sich allerdings das Problem von Anne Webers Prosatext: Für ein Märchen, selbst für ein modernes, geht es im Roman zu zeitgeistig und auch zu philosophisch zu. Zur Persiflage einer Heiligenvita reichen die seltsamen Wundertaten Kirios nicht aus, zudem ist das Heilige, das Religiöse kein wirkliches Thema im Buch. Und zum Schelmenroman fehlen dem Helden einfach die bewusst erzeugten Schelmentaten.

Kirio bleibt der ganz Andere. Dasselbe gilt von der Erzählerin, die den Leser bis zum Schluss im Unklaren lässt, ob in ihr überhaupt ein Funke Materialität steckt. Trotz alledem ist Anne Webers Roman Kirio sicherlich lesenswert. Die Autorin versteht es mit der Sprache virtuos umzugehen – mal philosophisch, mal kindlich, zeitweise voll Witz und Ironie, dann wieder nachdenklich und ernsthaft. Diese hohe Form von Poetizität macht ihr keiner so leicht nach. (Andreas Puff-Trojan, Album, 18.3.2017)