Zu widerständig: Undine Radzeviciute.

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"Fische und Drachen": "Ein Autor darf nicht sagen, wie sein Roman zu lesen ist", sagt die Autorin.

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STANDARD: In Ihrem Roman "Fische und Drachen" begegnen einander die christliche Kultur, symbolisiert durch die Fische, und die chinesische, symbolisiert durch die Drachen. Was inspirierte Sie?

Undine Radzeviciute: Den Anstoß gab eine merkwürdige Darstellung auf einer Schwarz-Weiß-Abbildung eines Gemäldes. Ich hatte sie in einem Band über die Geschichte Chinas entdeckt. Sie zeigte eine Chinesin in mittelalterlicher Rüstung mit Helm und Speer. Es war ein rätselhaftes Bild. Die Chinesin war dargestellt wie der heilige Georg. Das war der christliche Märtyrer und Drachentöter. Darum wirkte das Bild in dem chinesischen Geschichtsbuch so fehl am Platz. Der Drache ist das Symbol des Kaisers von China. Er steht für Kraft und Erfolg. Diese seltsame Abbildung brachte mich auf die Idee zu einem Roman über den Zusammenprall zweier Kulturen.

STANDARD: Im Roman lassen Sie Ihre Leser dann auch die Entstehung des Gemäldes miterleben ...

Radzeviciute: Es dauerte einige Zeit, bis ich diese Umstände herausbekam. Ich habe Kunstgeschichte studiert. Aber ich hatte keine Ahnung, wer es gemalt haben könnte. Unter dem Bild befand sich kein Name. Nur die Dynastie war vermerkt, unter der es entstanden war. Erst nach langer Suche im Internet und in anderen Büchern fand ich ihn. Es war der italienische Maler und Jesuitenpater Giuseppe Castiglione. Er war Anfang des 18. Jahrhunderts gemeinsam mit einer Gruppe portugiesischer Jesuitenmissionare nach China gekommen, um den Kaiser zum Christentum zu bekehren. Zunächst bestand seine Aufgabe darin, die Wände und Decken der chinesischen Kirchen in China zu bemalen. Dann aber wurde er an den Kaiserhof geholt.

STANDARD: Die chinesische Kultur sei wie ein poröser Schwamm. Sie sauge alles Neue auf, verändere sich aber selbst nicht, heißt es im Roman. Wurde Castiglione von der chinesischen Kultur vereinnahmt?

Radzeviciute: Castiglione wurde zum Hofmaler des Kaisers ernannt und bekam sogar einen chinesischen Namen: Lang Shining. China ist das Land, in dem die christliche Kultur ihre erste Niederlage erlitt. Fünf Jahrzehnte wirkte Castiglione am Kaiserhof, was sich in einer Reihe seltsam anmutender Gemälde niederschlug.

STANDARD: Sie verwiesen darauf, dass die christliche Kultur öfter in der Geschichte mit anderen Kulturen zusammenprallte. Das kostet Menschenleben. Aber führte es nicht zu einer ungeheuren kulturellen Bereicherung des Westens?

Radzeviciute: Sie denken, kultureller Reichtum sei diese Kosten wert? Eine typisch deutsche Sichtweise!

STANDARD: "Schon längst lachen alle über den Pavillon von Friedrich dem Großen in Sanssouci, ein 'chinesischer' dreiblättriger Klee", schreiben Sie. Wie deuten Sie die Begeisterung für chinesische Kunst an europäischen Herrscherhöfen?

Radzeviciute: Es waren eigentümliche Wege des Austauschs kultureller Vorstellungen, die sich da zwischen Ost und West auftaten. Castiglione war nicht allein. Es waren noch andere europäische Maler am chinesischen Kaiserhof tätig. Einer war der französische Jesuitenpater Jean Denis Attiret, der ein Buch über chinesische Architektur verfasste. Ihre Bilder und Skizzen chinesischer Bauwerke und Gärten fanden in Europa Verbreitung. Auch am Hof Friedrich des Großen erlangte man davon Kenntnis. Der Pavillon in Sanssouci entstand nach Skizzen von Friedrich selbst.

STANDARD: Wenn die Menschenrechte in China nicht eingeschränkt wären, würden die Chinesen Europa verschlingen "wie ein Drache einen Schwarm Fische", steht im Roman geschrieben ...

Radzeviciute: Dahinter steckt eine wahre Begebenheit. In einem Gespräch mit dem chinesischen Premierminister bemerkte ein deutscher Minister einmal kritisch, dass es in China keine Menschenrechte gebe. Darauf erwiderte der Premierminister, dass dies zum Wohle Europas sei. Denn wenn die Chinesen Menschenrechte hätten, wüssten sie um die Möglichkeit, überall leben zu können, wo sie wollten.

STANDARD: Ein zweiter Strang Ihres Romans nimmt eine ironische Brechung des historischen Geschehens vor. Chinesische Weisheiten werden in europäische Alltagsgespräche überführt. Haben Sie darum Ihren Roman eine literarische Chinoiserie genannt?

Radzeviciute: Chinoiserie bezeichnet die Nachahmung wirklicher Schönheit chinesischer Kunst. Eine junge Frau, die aus ihrem Doktoratsstudium flog, ist die Autorin des Buches über das alte China. Sie ist gezwungen, mit ihrer Mutter, der Großmutter und ihrer Schwester in einer Wohnung zu leben. Die Schwester ist Business-Studentin. Die Mutter schreibt erotische Romane und verstrickt sich in eine Liebesaffäre. Die Großmutter ist charismatisch, aber von schlechtem Charakter. Die vier haben unterschiedliche Lebensauffassungen und tun sich schwer, es miteinander auszuhalten. Es herrschen keine idealen Bedingungen, um ein Buch zu schreiben. Die Autorin erschafft eine komplexe Welt der Qing-Dynastie, während sie in der zeitgenössischen Welt einer europäischen Familie lebt.

STANDARD: In dieser einfacheren Welt ist allerdings alles verklausuliert. Die Gespräche wirken voller Anspielungen. Wollen Sie dem Leser eine Handreichung zur Entschlüsselung geben?

Radzeviciute: Wertvoll ist nur, was der Leser selbst findet. Was er entdeckt und versteht, hat Bedeutung für ihn. Ein Autor darf nicht sagen, wie sein Roman zu lesen ist.

STANDARD: Man weiß hierzulande kaum etwas über die Literatur Litauens. Gibt es eine Tradition oder ein Vorbild, an das Sie mit Ihren Romanen anknüpfen?

Radzeviciute: Das Schlimmste, was einem als Schriftsteller passieren kann, ist, einen Lehrer zu haben oder einer Tradition anzugehören. Wenn Sie unsere Literaturkritiker über mich befragen, werden die Ihnen antworten, dass meine Bücher mit der litauischen Literatur nichts gemeinsam haben. Sie bezeichnen mich als die unlitauischste litauische Schriftstellerin. Meine Vorfahren kamen aus dem Kurland, einem Gebiet, in dem viele Sprachen gesprochen wurden, darunter auch Deutsch und Polnisch, und das heute ein Teil von Lettland ist. Vielleicht habe ich auch einen bösen Charakter und bin zu widerständig.

STANDARD: Schreiben Sie an einem neuen Roman?

Radzeviciute: Im Februar erschien mein neuer Roman Kraujas melynas – "Blaues Blut". Er handelt vom nördlichen Zweig einer der gefährlichsten europäischen Familien, derer von der Borch. Dieser Zweig kam aus Westfalen nach Livland. Bernd von der Borch, der im 15. Jahrhundert Landmeister des Deutschen Ordens war, wollte die Macht des Ordens stärken und die Ordensritter auf einen Kreuzzug nach Tatarstan führen. (Ruth Renée Reif, Album, 19.3.2017)