Karoline (Stefanie Reinsperger, li. und auf Projektion) hat sich im Lichterkettenvorhang verheddert. Kasimir (Rainer Galke) und Erna (Birgit Stöger) sind das neue Paar.

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Wien – Ein Zeppelin schwebt auf der Bühne des Volkstheaters über der Oktoberfestwiese davon. Die Menschen unten staunen und raunen ihm nach, zum Leidwesen ihrer Halswirbel. Das Publikum im Theater sieht den Zeppelin nicht, aber es betrachtet – über ein Kamerabild aus der Perspektive des Zeppelins – die Freude der mit der Entfernung allmählich kleiner werdenden Wiesenbesucher.

Dieses schöne Anfangsbild in Philipp Preuss’ "Kasimir und Karoline"-Inszenierung steht prototypisch für einen Abend, der mit Perspektiven und Chimären bzw. einer unechten Realität spielt. Damit kommt Preuss dem Autor Ödön von Horváth ganz entgegen. Über dessen Volksstücken liegt bekanntlich eine irisierende Folie der Künstlichkeit, die das Geschehen dem Lokalkolorit enthoben zeigt.

Rein in das Lametta!

Bühnenbildnerin Ramallah Aubrecht arrangiert also weder Biertische noch Achterbahn, auch keinen Hau-den-Lukas, sondern einen großen, zentralen, sich wie ein Ringelspiel drehenden Lichterkettenvorhang, ein mit zunehmender Bewegung der Drehbühne flirrendes Glitzerweltgestrüpp, in dem sich Karoline (Stefanie Reinsperger) im Verlauf des Festbesuchs grausam verheddern wird. Ihr Bräutigam Kasimir (Rainer Galke) kann mit dem Vergnügungsgebot am Tag nach seiner Entlassung als Kraftwagenfahrer herzlich wenig anfangen.

Melancholisch lehnt er Karolines Begehr ab, gemeinsam mit der Achterbahn zu fahren. Während sie gierig durch den Lamettavorhang schlüpft, reißt Kasimir seine Hand los und bleibt heraußen in der lichtschwachen Zone der Abgebauten und Außenseiter. Hier sitzt er dann als Zaungast der Lustbarkeit und blickt ins Publikum, während Karoline sich mit Schürzinger (Sebastian Klein), Rauch (Michael Abendroth) und Speer (Lukas Holzhausen) neue Freunde findet, deren Bankkontos von der Wirtschaftskrise unbeeinträchtigt blieben.

Gesellschaft des Spektakels

Der Zusammenhang von Ökonomie und Liebe tritt unschön zutage, auch wenn Karoline versucht, die Entzweiung anderweitig zu rechtfertigen. Und irgendwann, nachdem Kasimirs "Toilettenbekanntschaften" Elli (Eyneb Saleh) und Maria (Nadine Quittner) genug aus Guy Debords "Die Gesellschaft des Spektakels" rezitiert haben (ja, Schminke sagt nichts über Intelligenz aus), wendet sich Kasimir in einem seltenen Moment der Begegnung an seine Ex-Braut und meint: "Ich kann dir nur eins sagen: Leck mich am Arsch, Karoline".

Spätestens jetzt weiß man, dass hier eine abgewandelte Fassung (von Philipp Preuss und Dramaturg Roland Koberg) gespielt wird. Sie enthält so rigoros neuzeitliche Sager wie eben diesen, aber auch exponierte Passagen aus vorangegangenen Entwürfen Horváths. In diesem über eine Livekamera erschlossenen Treiben hinter der Glitzerfassade passiert aber etwas, das die Inszenierung abrutschen lässt: Sie vergisst allmählich auf Kasimir. Der Titelheld sitzt sich während des zweistündigen Abends den Hintern an der Rampe platt. Von ihm hätte man gerne mehr gesehen.

Der Weg des Zigarettenrauchs

Eine Änderung des Titels wäre folglich passend gewesen, auf "Karoline, die Schönheit von Haidhausen" oder "Die Wiesenbraut". Preuss interessiert sich mehr für die falschen, auf erotischer Währung fußenden Hoffnungen der aufstiegswilligen Karoline, die Reinsperger hingebungsvoll bis zuletzt verteidigt. Dennoch fehlt dem Abend das Kasimirische Kraftfeld.

Ablenkung verschaffen Figuren wie der bis unter die Brust tätowierte Merkl Franz (ein Mann wie ein offenes Messer: Kaspar Locher) und Erna (Birgit Stöger), deren deformierte Existenz sich in völliger körperlicher Erstarrung zeigt, so weit, dass auch ihr Zigarettenrauch seltsame Wege einschlägt. Ihre einzige Ausdrucksweise ist leises Singen, und wenn sie völlig unvermittelt Lana del Reys Liebesballade "Video Games" aufschnappt, dann ist das, als würde sie eine Lichterkette streifen, die der selig driftende Soundtrack Richard Eigners umschmiegt hält.

Aus solchen Details zieht der Abend immer wieder Kraft, zum Beispiel auch aus einem Soundsystem, das den Laborcharakter dieses Horváthschen Gesellschaftsausschnittes betont: Es knacken Erdnüsse so geräuschvoll, als wären es Gelenkknochen. Und manchmal sind sie es auch. (Margarete Affenzeller, 18.3.2017)