Landet man in Gesprächen beim Thema "Jugendamt", hat eigentlich jeder dazu eine Meinung – und die ist meist nicht besonders gut. Häufig ist zu hören: "Das Jugendamt hält zu den Müttern, die Väter dürfen nur zahlen, ohne ihre Kinder zu sehen!" Oder: "Wenn das Jugendamt kommt, nimmt es einem gleich die Kinder weg!" Und Medien berichten fast nur bei einem tragischen Fall von Kindesmisshandlung über das Jugendamt. Dann finden sich unter den entsprechenden Artikeln dutzende Postings, in denen sich die fassungslosen User aufgeregt fragen: Wie konnte das passieren? Warum hat das Jugendamt das nicht verhindert? Diese Fragen sind berechtigt und der emotionale Aufruhr verständlich. Wann das Jugendamt zuständig ist, wer dort arbeitet und wie die Arbeit im Alltag aussieht, ist für viele unbekannt.

In Wien beschäftigt die MA 11, also das Jugendamt, mehr als 1.600 Mitarbeiter verschiedener Berufsgruppen wie etwa Sozialarbeiterinnen, Sozialpädagoginnen und Psychologinnen. 2015 kam es zu 10.469 Gefährdungsabklärungen, dabei wurden 718 Kinder oder Jugendliche aus den Familien genommen und fremduntergebracht.

Krisenunterbringung in Wien

Also: Nein, das Jugendamt nimmt einem nicht gleich die Kinder weg. Aber ja, Sozialarbeiterinnen dürfen bei einer akuten Gefährdung das Kind unverzüglich aus der Familie holen, und ja, das tun sie auch. Und was passiert dann? Ist das Kind jünger als drei Jahre, wird es zu Krisenpflegeeltern gebracht, ältere Kinder kommen ins Krisenzentrum. In den folgenden Wochen klärt der Sozialarbeiter die Gefährdung genau ab und versucht herauszufinden, ob das Kind wieder zurück in die Familie kann. Leider gelingt eine Rückkehr nicht immer.

Die Krisenunterbringung in Wien verteilt sich auf etwa 46 Krisenpflegeeltern und 14 Krisenzentren, die Kinder aufnehmen und sich rund um die Uhr um sie kümmern. Krisenzentren werden von Sozialpädagoginnen betreut und sind für jeweils acht Kinder gedacht. Da kein Kind abgewiesen wird, kann es vorkommen, dass die Zentren ziemlich voll sind.

Für die Betreuung der Kinder sind untertags normalerweise zwei Sozialpädagoginnen vorgesehen, nachts nur mehr eine. Unterstützung bekommen sie unter der Woche durch eine "Wirtschaftshelferin", die sich um den Haushalt kümmert. Psychologinnen vor Ort wären ein großer Gewinn, um die Kinder in diesem Ausnahmezustand zu begleiten. Aktuell werden sie von den Sozialpädagoginnen bei Bedarf hinzugezogen.

Die MA 11, auch Mag elf genannt, ist als Jugendamt für Probleme zuständig.
Foto: APA / Hans Klaus Techt

Wie sieht so ein Krisenzentrum aus?

Krisenzentrum – das klingt groß und chaotisch und, ja, krisenhaft. Wer eine derartige Einrichtung betritt, ist aber überrascht: Das Krisenzentrum ist, anders als der Name vermuten lässt, kein großes Zentrum, sondern ähnlich wie eine Wohngemeinschaft aufgebaut. Es gibt eine Gemeinschaftsküche, ein Wohnzimmer, Badezimmer, WCs sowie die Doppelzimmer, in denen die Kinder und Jugendlichen während der "Krisenzeit" untergebracht sind.

Hier lerne ich den mageren 14-jährigen Daniel* kennen. Er geht seit längerem nicht mehr regelmäßig zur Schule, sitzt nur zu Hause, kifft und sperrt sich in seinem Zimmer ein. Die Eltern wissen nicht mehr weiter, es kommt täglich zu Streit, bei dem Daniel immer wieder auszuckt und Sachen zerstört. Seit einigen Wochen verweigert er den Schulbesuch komplett und verlässt überhaupt nicht mehr die Wohnung. Er isst fast nichts und hat in kurzer Zeit stark abgenommen. Wenn die Mutter mit Daniel spricht, bricht sie jedes Mal in Tränen aus, der Vater beginnt zu schreien.

Um eine weitere Eskalation zu verhindern, vereinbart die Sozialarbeiterin gemeinsam mit den Eltern, Daniel für einige Zeit aus der belastenden Situation zu Hause herauszunehmen und im Krisenzentrum unterzubringen. Die Erziehung im Alltag wird inzwischen von den Sozialpädagoginnen übernommen: Daniel bekommt wieder eine Tagesstruktur mit klaren Regeln für Schlafenszeiten oder die Benutzung von Handy und PC. Die Sozialpädagoginnen schicken die Kinder morgens in die Schule und begleiten sie teilweise auf dem Schulweg, damit sie dort auch ankommen.

Sie organisieren für Daniel Termine bei einer MA-11-Psychologin und einem externen Psychiater, der Daniel Antidepressiva verschreibt. Es finden auch gemeinsam mit den Eltern und der Sozialarbeiterin regelmäßig Gespräche statt, um zu überlegen, wie es weitergehen soll. Die Sozialarbeiterin erarbeitet in der Zwischenzeit mit den Eltern, was sich zu Hause ändern muss und welche Unterstützung die Familie benötigt.

Die Krise als Chance auf Veränderung

Anfangs ist Daniel eher zurückgezogen und spricht kaum, doch nach einiger Zeit sitzt er immer häufiger gemeinsam mit den anderen Jugendlichen im Wohnzimmer oder geht mit ihnen hinaus auf den Spielplatz im Hof. Seit einer Woche geht er auch wieder selbstständig zur Schule.

Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie es ist, wenn das eigene Kind oder man selbst plötzlich von zu Hause wegmuss. Es ist ein Bruch mit der bisherigen Lebensrealität, dem Alltag, dem Vertrauten. Auf einmal ist alles anders, und es wird einem der Boden unter den Füßen weggezogen. Man erlebt einen totalen Kontrollverlust, und plötzlich entscheidet eine fremde Person, ob man überhaupt wieder in sein eigenes Zuhause zurückkehren darf.

Wie Daniels Fall aufzeigen soll, liegt in der Krise aber auch oft eine Chance auf eine Veränderung zum Positiven. Doch damit das gelingen kann, braucht es immer auch die Bereitschaft des ganzen Familiensystems und vor allem der Eltern, nachhaltig etwas zu ändern. (Alice Rieder, 3.4.2017)

* Name von der Autorin geändert