Transkontinentale Trauerarbeit: Fritz Cremers Mauthausen-Denkmal "O Deutschland, bleiche Mutter" und modernistische Aluminiumskulpturen des sowjetischen Künstlers Wadim Sidur im Hintergrund.

Foto: Herwig G. Höller

Mit der russischen Annexion der Krim vor genau drei Jahren, Kriegshandlungen in der Ostukraine und Sanktionen gegen Russland waren die Beziehungen zwischen Russland und der EU 2014 auf einem historischen Tiefpunkt angelangt. Marina Loschak, die seit 2013 das staatliche Puschkin-Museum in Moskau leitet, wollte in der angespannten Situation gegensteuern und regte eine länderübergreifende Ausstellung europäischer Nachkriegskunst an. Mit dem Brüsseler Kulturzentrum Bozar und dem Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe fand sie Verbündete.

Nach Zwischenstationen bei den Partnern ist die von ZKM-Direktor Peter Weibel, Eckhart Gillen aus Berlin und Danila Bulatow aus Moskau kuratierte Großausstellung Die Kunst Europas 1945–1968" nun auch in Moskau angekommen. In Karlsruhe trug die Schau die Überschrift "Der Kontinent, den die EU nicht kennt". Die aus Platzgründen auf etwa die Hälfte verkleinerte Moskauer Variante, in der etwa 200 Kunstwerke zu sehen sind, läuft unter "Mit Blick in Richtung Zukunft". Im Puschkin-Museum fehlen vor allem Teile, in denen italienische Kunst und jene des einstmaligen Jugoslawien im Vordergrund gestanden sind.

Diese Ausstellung sei deshalb so wichtig, da sie Bedeutung eines vereinten Europas demonstriere, sagte Marina Loschak bei der Eröffnung. Die Museumsdirektorin, die wie der Österreicher Peter Weibel im ukrainischen Odessa zur Welt kam, zählte im März 2014 zu jenen wenigen russischen Kulturbürokraten, die einen vom Kulturministerium lancierten Unterstützerbrief für die Krim- und Ukraine-Politik Wladimir Putins nicht unterzeichnet hatten.

Von Ost und West

Peter Weibel erklärte seinerseits die Retrospektive zum Beitrag der Überwindung von "Nato-Ausstellungen", in denen stets westeuropäische und nordamerikanische Sichtweisen dominiert hätten. Die Kuratoren sehen in der Nachkriegskunst von Ost und West eine Vielzahl an parallelen Entwicklungen, die sich auch durch totalitäre Regime und den Eisernen Vorhang nicht habe verhindern lassen.

Ausgangspunkt der Schau sind die Traumata des Zweiten Weltkriegs, und gerade hier spielt Kunst aus Österreich eine sichtbare Rolle: Der erste Raum startet mit Alfred Hrdlickas Marmorskulptur Gekreuzigter (1969), die am Eröffnungsabend zum begehrten Selfie-Motiv avancierte. Abgeschlossen wird dieser Abschnitt mit Werken des Wiener Aktionismus, einem Video von Günter Brus' Wiener Spaziergang (1965) oder einem Blutschüttbild auf Jute (1966) von Hermann Nitsch.

Dazwischen finden sich nicht nur Werke des Briten Henry Moore, des Franzosen Jean Dubuffet oder des DDR-Künstlers Fritz Cremer mit einem Modell des für das KZ Mauthausen geschaffenen Denkmals O Deutschland bleiche Mutter, sondern insbesondere auch sowjetische Künstler: Zu sehen sind Beatrissa Sandomirskajas hölzerne Pietà Majdanek (1944) sowie Treblinka (1966) und andere kubistische Aluminiumskulpturen von Wadim Sidur. Als wichtigste Entdeckung erweist sich hier jedoch das Ölbild 1945. Drei Monate nach dem Krieg des Moskauer Ausnahmekünstlers Eli Beljutin: Die abstrahierend-expressionistische Darstellung eines Sitzenden, die mit "nach 1945" datiert ist, erinnert eher an westeuropäische Kunst und entspricht ganz und gar nicht den Klischees einer vom sozialistischen Realismus geprägten Sowjetkunst der damaligen Zeit.

Neuer Idealismus

Es lassen sich diese grenzüberschreitende Gemeinsamkeiten allerdings nicht überall in konstanter Qualität beobachten. Ausgezeichnet gelingt dies im Kapitel zum "neuen Idealismus": Die kinetischen Installationen der Düsseldorfer Künstlergruppe Zero ergänzen jene des Moskauer Kollektivs Dwischenie ("Bewegung"). Mit dem Polen Zbigniew Gostomski und dem Slowaken Milan Dobeš entsteht ein gesamteuropäisches Kontinuum.

Von Studentenunruhen

Schwieriger wird es hingegen bei neuen Realismen, Konzept- oder gar Aktionskunst, die sich jeweils im sozialistischen Zentraleuropa fast gleichzeitig wie im Westen belegen lassen, in der deutlich autoritären Sowjetunion jedoch erst einige Jahre später in Erscheinung traten. Eine Ausweitung der Ausstellung auf nonkonformistische Kunst der sowjetischen 1970er-Jahre hätte noch eindrucksvoller erlaubt, die These europäischer Gemeinsamkeiten zu belegen.

Denn das Jahr 1968, das den Endpunkt der Ausstellung markiert, war zwar mit Studentenunruhen für Westeuropa und der Niederschlagung des Prager Frühlings für das sozialistische Zentraleuropa von einschneidender Relevanz. In der Sowjetunion selbst hielt sich die Auswirkungen dieser Ereignisse zunächst in Grenzen – gezählte acht Dissidenten demonstrierten am Roten Platz gegen den sowjetischen Truppeneinmarsch in der ČSSR.

Integration Russlands

Geschichte sei in die Vergangenheit zurückprojizierte Politik, wird in Russland häufig der marxistische Historiker Michail Pokrowski zitiert. Eine derartige Lesart ist auch bei der aktuellen Ausstellung möglich, die dann als Manifest einer unausweichlichen europäischen Integration Russlands, zumindest auf kultureller Ebene, verstanden werden könnte. Nachdem nicht einmal Stalin den Kontinent nachhaltig spalten konnte, bleibt dies folglich auch heute absolut unmöglich. Freilich, in der großen Politik stand zuletzt eher das Trennende im Vordergrund, und das betrifft keinesfalls nur den Kreml: Peter Weibel beklagte etwa, dass die EU seine Ausstellung aufgrund des Russland-Bezugs nur bescheiden und die deutsche Kulturstiftung des Bundes sie deshalb gar nicht subventioniert habe. (Herwig G. Höller, 21.3.2017)