Mauer des Schicksals: "Halb Legende, halb Märchen" nennt Kracauer Fritz Langs "Der müde Tod" (1921).

Foto: Filmarchiv Austria

Wien – Es ist ein sonderbarer Fahrgast, der zu dem jungen Paar in die Kutsche steigt. Schwarzer Hut, schwarzer Umhang. Wie ein Spuk ist er aus dem Nichts aufgetaucht. Im Dorf angekommen, sind die beiden Männer plötzlich verschwunden.

Sofort macht sich die Frau auf die Suche nach dem Geliebten, doch eine riesige Mauer, hinter der sich das Land des Fremden erstreckt, versperrt ihr den Weg. Erst als sie ein unschuldiges Kind aus den Flammen rettet und sich damit selbst opfert, geleitet Gevatter Tod sie zu ihrem Liebsten. Denn das war ihr Schicksal.

Mit "Schicksal" betitelte auch der deutsche Soziologe und Filmpublizist Siegfried Kracauer eines der Kapitel seines Buches Von Caligari zu Hitler, von dem die Retrospektive des Filmarchiv Austria ihren Namen bezieht. Kracauers Untersuchung, erschienen 1947 in englischer Sprache im US-Exil, ist bis heute eine der einflussreichsten Studien zum Kino der Weimarer Republik.

Geschichte von Motiven

Denn Kracauer dachte die deutsche Filmgeschichte mit politischen Entwicklungen zusammen: Von Caligari zu Hitler erzählt eine "geheime" Geschichte von Motiven, anhand derer ersichtlich wird, wie sich die heraufziehende Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten in den Filmen selbst ablesen lässt. Über Fritz Langs Der müde Tod (1921) und den aussichtslosen Kampf der jungen Frau gegen ihre Bestimmung schreibt er: "Angesichts dieser Handlung muss sich dem Publikum die Vorstellung aufdrängen, dass die Taten der Tyrannen, wie immer willkürlich sie auch scheinen, vom Schicksal gewollt und verhängt sind."

Die vom Filmhistoriker Stefan Drößler konzipierte Schau ist also zunächst als Wegbeschreibung zu verstehen, anhand derer Kracauers "Kollektivdispositionen" zu überprüfen sind: Ohnmacht, Chaos, Hörigkeit, Verlust. Kracauer war nicht an einer Filmanalyse gelegen, sondern am Aufzeigen einer Mentalitätsgeschichte – die jedoch nicht mit einem deutschen Nationalcharakter verwechselt werden darf. Denn das Kino sei wie kein anderes Medium als populäre Kunstform an die anonyme Masse adressiert – nicht nur in Deutschland: "Gewiß, amerikanische Kinobesucher kriegen vorgesetzt, was Hollywood will, daß sie wollen; auf lange Sicht aber bestimmen die Bedürfnisse des Publikums die Natur der Filme."

Magische Faszination und Gefühl der Bedrohung: Fritz Langs "Metropolis"
Foto: filmarchiv austria

Die "beharrliche Vorherrschaft" von psychologischen Mustern betrifft dabei die unterschiedlichsten Strömungen und Stile, die die Retrospektive nach Themen und Subgenres gruppiert: Tyrannenherrschaft (Dr. Mabuse, der Spieler), Straßen- und Triebfilme (Der letzte Mann), Mystifizierung der Natur (Der heilige Berg), Moderne und Großstadt (Metropolis) und Neue Sachlichkeit (Menschen am Sonntag). Doch Kracauer geht weiter, indem er etwa anhand der populären Fridericus-Filme über Friedrich den Großen den paradoxen Wunsch der Mittelschicht nach Autorität beschreibt. Oder auf die Bedeutung eskapistischer Schauplätze verweist, zu denen er auch Wien zählt ("Noch die abgetakeltste Wiener Operette musste verfilmt werden").

Kritisches Vermächtnis

Anhand der Retrospektive lässt sich aber auch ablesen, wie stark Kracauer – neben Lotte Eisners Die dämonische Leinwand – den Kanon der deutschen Filmgeschichte mitgeprägt hat: Arbeiten von Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau und Georg Wilhelm Pabst, die auch die Retrospektive dominieren, zählen seither zu Klassikern jener Kinolandschaft, die es in ihrer Vielfalt und künstlerischen Qualität sogar mit Hollywood aufnehmen konnte. Hier wäre eine größere Streuung nützlich gewesen: Denn es war das breite Angebot an Komödien, Melodramen, Serien- und Abenteuerfilmen, das den täglichen Bedarf an Unterhaltung bediente.

Filme in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu erfassen und zu beurteilen, das ist Kracauers Vermächtnis an die Filmkritik. (Michael Pekler, 22.3.2017)