Zeitzeuge großer Umwälzungen: Siegfried Kracauer (1889-1966).

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Wien – Ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, bis nach Siegfried Kracauers Tod endlich eine umfassende Biografie dieses so vielfältig interessierten Intellektuellen erschienen ist. Der Versuch, kurz seine Bedeutung zusammenzufassen, weist schon auf die Schwierigkeit des Projekts hin.

Mit seiner empirischen Untersuchung Die Angestellten (1930) betrat Kracauer Neuland für die Soziologie in Deutschland, mit seiner Studie Von Caligari zu Hitler (1947) schrieb er ein Standardwerk sozialpsychologischer Filmbetrachtung, um sich am Ende seines Lebens mit der unvollendeten Geschichte – Vor den letzten Dingen (1966) noch umfassend der Geschichtsphilosophie zu widmen. In all diesen Wissensgebieten war er Quereinsteiger, studiert hatte er Architektur.

Wirken als Redakteur

Jörg Später macht aber deutlich: Auch wenn Kracauer vor allem als Filmhistoriker und -theoretiker erinnert wird – 1960 legte er das Standardwerk Theory of Film vor -, lag seine zeitgenössische Bedeutung nicht zuletzt in seinem Wirken als Redakteur der Frankfurter Zeitung (ab 1924), dem führenden Blatt des intellektuellen Diskurses der Weimarer Republik.

Ab 1930 leitete er von Berlin aus das Feuilletonressort der Tageszeitung, bis mit der Machtübernahme der Nazis seine Karriere aufgrund seiner jüdischen Herkunft und seiner linken Überzeugungen in Deutschland jäh beendet wurde.

44 Jahre verbrachte Kracauer in Deutschland. In dieser Zeit erlebte er das Kaiserreich, den Weltkrieg, die Revolution, die Weimarer Republik und kurz die Naziherrschaft, der er durch Flucht nach Frankreich und später in die USA nur um Haaresbreite entkommen konnte. Ein also nicht nur intellektuell bewegtes Leben: Kracauer war auch Zeitzeuge der großen und brutalen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts.

Mammutaufgabe

Auch daher ist es ein Vorteil, dass sich mit Jörg Später ein Historiker und kein Filmwissenschafter, Soziologe oder Philosoph der Mammutaufgabe einer Biografie angenommen hat. Souverän steuert der in Freiburg lehrende Autor nicht nur durch die stürmischen Wasser der Weltgeschichte, sondern auch gewissermaßen unparteiisch durch die ganze Bandbreite von Kracauers Schaffen, ohne dabei den Überblick zu verlieren.

Ganz Gesellschaftskritiker und -analytiker hatte Kracauer selbst wenig übrig für das Genre Biografie. In einem Aufsatz bezeichnete er sie als "neubürgerliche Kunstform", die kompensiere, dass das Individuum in der Wirklichkeit immer nichtiger werde. Sein eigenes Buch über den Komponisten Jacques Offenbach legte er daher als "Gesellschaftsbiografie" an.

Jörg Später ist etwas bescheidener, er versteht sein Buch als eine "soziale Biografie". Er setzt Kracauers Leben und Denken immer wieder in den Kontext der Entwicklung seiner Weggefährten, Freunde und Konkurrenten Ernst Bloch, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno – mit einem bisweilen amüsierten Blick auf die Überspanntheiten und Eitelkeiten im schwierigen Miteinander der intellektuellen Schwergewichte. Auch das macht die knapp 750 Seiten trotz aller philosophischen Dichte zu einer überraschend unterhaltsamen Lektüre. (Sven von Reden, 22.3.2017)