Livia Tomova fand heraus, dass Frauen Emotionen unter Stress besser lesen können als Männer.

Foto: Wolfgang Schaubmayr

Wien – Er ist zwar ständig in aller Munde, aber dennoch nicht restlos erforscht: Stress. Die Psychologin Livia Tomova, spezialisiert auf kognitive Neurowissenschaft, untersuchte in ihrer Dissertation an der Universität Wien, wie sich akuter Stress auf soziale Kognitionsprozesse auswirkt. "Darunter fallen alle Denkprozesse, die für soziale Interaktionen nötig sind", sagt Tomova, etwa wenn man die Perspektive einer anderen Person einnimmt und darüber nachdenkt, was diese plant, braucht oder fühlt.

Tomova verfolgt einen interdisziplinären Ansatz: Sie führt Verhaltensexperimente durch, benützt aber auch Magnetresonanztomografie, um Vorgänge im Gehirn sichtbar zu machen. Dabei fand sie heraus, dass Stress und die Hormone, die er mit sich bringt, soziale Kognition und auch Emotion auf komplexe Weise beeinflussen. Während Stress das Einfühlungsvermögen mindere, wirke er auf andere soziale Faktoren, etwa "Emotionsansteckung", positiv. Ein weiteres Ergebnis von Tomovas Forschung zeigt, dass es dabei Geschlechterunterschiede gibt: Frauen könnten Emotionen anderer Personen unter Stress besser beurteilen, Männer würden durch Stress darin schlechter.

Die Anwendungen dieser Forschung seien vielfältig. "Es ist entscheidend, zu verstehen, was bei Stress im Gehirn passiert", sagt Tomova. Zu verstehen, welche Faktoren von Stress sozial-kognitive Prozesse fördern und welche dem Sozialverhalten abträglich sind, sei entscheidend für Therapie und Prävention, etwa um Arbeitsprozesse zu verbessern.

Die Forschungsfrage, die die Psychologin aktuell zu beantworten sucht, ist, wie sich Stress auf soziales Verhalten "während der Belohnungsverarbeitung" auswirkt. Es soll also die soziale Reaktion von Menschen erforscht werden, die, unter Stress stehend, belohnt werden oder beobachten, wie eine andere Person belohnt wird. Für diese Forschungsarbeit erhielt Tomova das L'Oréal-Stipendium "For Women in Science", das von der Akademie der Wissenschaften und der Unesco-Kommission vergeben und vom Wissenschaftsministerium finanziell un-terstützt wird.

"Wir haben eine Aufgabe entwickelt, in der Leute eine Art Lotterie mit Glücksrad spielen", sagt Tomova. Die Versuchspersonen spielen für sich selbst oder für jemand anderen und können entscheiden, nach welcher Strategie sie spielen: risikoreicher oder risikoärmer. Währenddessen wird mittels funktioneller Magnetresonanztomografie ihre Gehirnaktivität gemessen. Tomova will herausfinden, was im Gehirn passiert, wenn Menschen die Entscheidung treffen, zu spielen oder nicht zu spielen. Unter Stress gesetzt werden die Versuchspersonen im Vorfeld dadurch, dass sie unter Zeit- und Leistungsdruck Rechenaufgaben zu lösen haben.

Trotz ihrer Expertise in der Stressforschung ist der Psychologin auch in ihrem eigenen Leben Stress nicht fremd. Besonders fasziniert sei sie davon, dass Stress in manchen Fällen das Sozialverhalten verbessert, etwa wenn es um die Bereitschaft geht, jemandem zu helfen. Als Beispiel nennt sie Menschen, die, ohne darüber nachzudenken, einen anderen Menschen aus einem Feuer retten. "Stress ist etwas Starkes und Automatisches und kann einen in einen völlig anderen Erlebniszustand versetzen." (Julia Grillmayr, 26.3.2017)