Rein technisch gesehen mag Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) recht haben. Der "NGO-Wahnsinn" im Mittelmeer, bei dem Flüchtlinge von Hilfsorganisationen vor dem Ertrinken gerettet werden, würde dazu führen, dass mittelfristig mehr Flüchtlinge sterben werden anstatt weniger, meint Kurz.

Je mehr durchkommen, umso mehr werden nachkommen. Im Umkehrschluss hieße das: Je mehr Flüchtlinge jetzt nicht durchkommen, umso weniger werden sich auf die lebensgefährliche Reise nach Europa machen. Diesen Aussagen liegen Zahlen zugrunde: Mehr als 5.000 Ertrunkene im Vorjahr, allein heuer sind es schon wieder mehr als 500. Die europäische Abschottungspolitik nimmt bewusst Tote in Kauf. Kurz betont, für die Rettung der Flüchtlinge sein. Die europäische Realität sieht allerdings aus.

Mit seiner Attacke auf die NGOs, die nicht Verursacher des Leids und der Toten im Mittelmeer sind, hat Kurz völlig überzogen, er macht die Falschen zum Sündenbock. Wenn man dieser Menschenverachtung die politische Bühne überlässt, begräbt die EU ihre Werte, für die sie auch steht: nicht nur für einen gemeinsamen Wirtschaftsraum und eine ohnedies noch fiktive Wehrhaftigkeit, sondern eben auch für Frieden und Solidarität; für einen Anstand, den man nicht nur bei anderen, etwa in der Türkei, einfordern darf, sondern den man sich auch selbst bewahren muss. Hier wird Krieg gegen Flüchtlinge geführt.

Logistik und Empathie

Die NGOs mögen in manchen Aktionen von einer übertriebenen Hilfsbereitschaft, von einer fast naiven Weltanschauung getragen sein, aber sie retten Menschenleben, sie versuchen Flüchtlingen zu helfen, die vor Krieg und Not geflohen sind. Dieser Einsatz wird von großem Engagement gespeist, hier investieren Menschen Zeit, Kraft, auch finanzielle Mittel. Die dahinterstehende Logistik wird von Empathie und nicht von Gewinnstreben angetrieben. Oft genug springen NGOs dort ein, wo staatliche Institutionen versagen, auch in Österreich.

Wenn es passt, dann nimmt der Staat dieses Engagement gern in Anspruch. Umso schäbiger ist es, die NGOs dann zu diskreditieren, wenn es einem politisch nicht mehr in den Kram passt. Derzeit scheint es wieder in Mode gekommen zu sein, jenen, die helfen wollen, den schwarzen Peter zuzuschieben und sie für das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft in der Bewältigung der Flüchtlingskrise verantwortlich machen zu wollen. Nichts anderes ist mit dem Herabwürdigen des "NGO-Wahnsinns" gemeint. Das ist eines europäischen Außenministers nicht würdig.

Unglaubwürdige Empörung

Die SPÖ ist in ihrer Empörung über diesen Zynismus übrigens nicht sehr glaubwürdig. Auch der Kanzler und sein Verteidigungsminister verschieben auf dem Papier Flüchtlinge und wollen ihnen trotz rechtlicher Verpflichtung die Aufnahme verwehren, wenn es politisch nicht opportun erscheint.

Von der Idee einer europäischen "Sozialunion", die von der ÖVP bereits als "Irrweg" bezeichnet wird, hat sich auch die SPÖ verabschiedet, indem sie nationale Egoismen über alles andere stellt und etwa die Personenfreizügigkeit in der EU infrage stellt, wenn es um "unsere" Sozialleistungen geht. In dieser Spirale des Nur-auf-sich-selbst-Schauens und der gnadenlosen Vermarktung menschenfeindlicher Ideen als "vernünftige" Politik stellt das Auf- und Abrechnen von Ertrinkenden nur eine logische Eskalationsstufe der völligen Entsolidarisierung der Gesellschaft dar. (Michael Völker, 26.3.2017)