Wien – Dass der Traum von der einsamen Insel ins Gegenteil umschlagen kann, davon weiß die Filmgeschichte ausführlich zu erzählen. Denn das Überleben geht mit einem Zurückgeworfensein auf sich selbst einher, und wer von der Zivilisation gerettet werden will, muss sich zunächst immer selbst helfen.

Eine geheimnisvolle rote Schildkröte verhindert die Abreise und verhilft dem neuen Inselbewohner zu einer neuen Zukunft.
Foto: Polyfilm

Auch in Die rote Schildkröte (La tortue rouge) macht sich ein Schiffbrüchiger daran, das kleine Eiland, auf dem ihn ein Sturm hat stranden lassen, zu erkunden. Nur wenige Schritte sind es vom weißen Sandstrand ins Dickicht der Insel, wo sich Früchte, Süßwasser und ausreichend Bäume finden, aus denen ein Floß gebaut werden kann. Doch die Versuche, mit einem solchen die Heimfahrt anzutreten, scheitern: Eine rote Schildkröte will den Neuankömmling nicht ziehen lassen.

Der Animationsfilm Die rote Schildkröte des niederländischen Trickfilmregisseurs und Animators Michael Dudok de Wit erinnert in seiner Ästhetik an die japanischen Animefilme von Hayao Miyazaki (Chihiros Reise ins Zauberland), tatsächlich war das von ihm gegründete Studi Ghibli an der Produktion beteiligt.

Doch im Gegensatz zu Miyazaki, bei dem mystische Natur und moderne Technik stets einander durchdringen, hält sich diese Geschichte bis zum Schluss die Möglichkeit offen, ein einziger Traum zu sein. Die rote Schildkröte erzählt nämlich von einer geheimnisvollen Annäherung zwischen Mensch und Tier, bei der selbst die Lösung des Rätsels keine Erklärung darstellt.

Universell gültig

Dies gelingt Dudok de Wit mit seinem Oscar-nominierten Film vor allem durch den Verzicht auf jedweden Dialog: einzig die Geräusche der Natur – der Wind, der Regen, das Kreischen der Möwen, mitunter aber auch absolute Stille – sowie ein minimalistischer Score bilden die Tonebene der Erzählung und verleihen dieser dadurch etwas universell Gültiges.

Dass Dudok de Wit an der traditionellen Zeichentricktechnik geschult ist, lässt sich an den einfachen Konturen und der Flächigkeit seiner Bilder erkennen. Der Horizont über dem scheinbar unendlich weiten Meer wird hier zur Trennlinie zwischen zwei kunstvoll verwaschenen Blautönen.

Universum Film

Die Selbsterkenntnis des namenlosen Gestrandeten führt diesen geradewegs ins glücksversprechende Märchenhafte. Doch das Paradies kann auch in diesem Film nicht von ewiger Dauer sein. Schnell ziehen die Tage, aus denen Wochen und Jahre werden, vorüber. Und dann? Vielleicht war ja alles nur Einbildung, so wie jener Moment, in dem der Mann mit ausgebreiteten Armen über einen endlos langen Steg fliegend die Insel verlässt. Vielleicht ist die rote Schildkröte aber auch, ohne dass er es wusste, immer schon an seiner Seite gewesen. (Michael Pekler, 27.3.2017)