Patientenanwalt Gerald Bachinger fordert mehr Kostentransparenz im Gesundheitssystem: "Es wird notwendig sein, dass ein Kriterienkatalog erstellt wird, was leistbar ist."

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STANDARD: Mit welchen Anliegen wenden sich Patienten in letzter Zeit vermehrt an Sie?

Gerald Bachinger: Es gibt zwei Themen, die zwar bei Patientenbeschwerden nicht im Vordergrund stehen, aber oft mitschwingen. Eines hat es vor zehn Jahren überhaupt nicht gegeben: das Thema Wartezeiten. Was in letzter Zeit auch sehr stark kommt, ist das Thema Kommunikation. Fast bei jeder Beschwerde wird die zwischenmenschliche Komponente angesprochen.

STANDARD: Sind die Menschen ungeduldiger, oder warten sie aufgrund mangelnder Ressourcen länger?

Bachinger: Die Menschen waren vor zehn Jahren sicher geduldiger. Die zweite Seite ist, dass durch Strukturprobleme im Gesundheitswesen unnötige Wartezeiten entstehen.

STANDARD: Welche Strukturprobleme sprechen Sie da an?

Bachinger: Die Patienten drängen im städtischen Bereich immer stärker in Spitalsambulanzen, beschweren sich aber zugleich darüber, dass sie dort vier oder sechs Stunden warten. Das ist eine schizophrene Haltung, die sich aus einer gewissen Abwägung der Patienten erklärt: Ist es sinnvoll, zum Hausarzt zu gehen, der drei Minuten für mich Zeit hat und mich dann zu Fachärzten schickt? Was ist das für ein Zeitaufwand im Vergleich zu einem halben Tag in der Ambulanz, wo ich im Sinne eines One-Stop-Shop alles habe? Da muss man strukturell eingreifen. Ich glaube nicht, dass die Österreicher besonders gerne ins Krankenhaus gehen, sie werden aufgrund der mangelhaften Strukturen in die Ambulanzen gezwungen.

STANDARD: Wie steht es um die Wartezeit auf OPs?

Bachinger: Wir haben uns vergangene Woche die Wartezeiten auf Grauer-Star-Operationen angeschaut. In Niederösterreich wartet man im Schnitt ein Jahr. Das muss man sich vorstellen: Ich bin 80 Jahre alt und habe ein Jahr lang die erhöhte Gefährdung, dass ich stolpere und mir etwas breche. Das ist nicht nur menschlich, sondern auch ökonomisch nicht sinnvoll. Wir sind noch in der glücklichen Lage, dass wir bei Akut-OPs kaum Wartezeiten haben. Aber bei geplanten Operationen wird die Ressourcenproblematik immer schlagender. Die Schere zwischen dem, was in der Medizin möglich ist, und dem, was mit den personellen und finanziellen Ressourcen geleistet werden kann, geht immer weiter auf. Die Rechtsträger haben in ihrem Bereich einen Einsparungsdruck und sparen dort ein, wo es am leichtesten scheint.

STANDARD: Auch auf akut notwendige Strahlentherapie müssen Krebspatienten warten. In Ostösterreich werden Kapazitäten aufgestockt. Genug?

Bachinger: Wir Patientenanwälte haben zwei, drei Jahre Druck gemacht, nun ist man endlich bereit, viel Geld in die Hand zu nehmen. Ich glaube nicht, dass die durchschnittlichen Wartezeiten jetzt auf null schrumpfen werden. Zirka eine Woche ist aber wohl vertretbar.

STANDARD: Krebsbehandlungen sind teuer. Wo soll die öffentliche Hand eine Grenze ziehen?

Bachinger: Noch dieses und nächstes Jahr kommen sehr hochpreisige Krebsmedikamente auf den Markt. Es wird notwendig sein, dass Ressourcenentscheidungen nachvollziehbar und transparent werden und ein Kriterienkatalog erstellt wird, was leistbar ist. Man spricht von Ressourcenallokation beziehungsweise Priorisierung. England hat Schwellenwerte, bis wohin die Gesellschaft bereit ist, etwas zu zahlen. In Schweden gibt es ein Priorisierungsmodell. Das muss transparent sein, gerecht und sowohl ethisch als auch demokratisch legitimiert sein.

STANDARD: Wie transparent ist Österreich da?

Bachinger: Wir sind sehr weit davon weg, sogar so weit, dass die Politik nicht bereit ist, das als Problem zu sehen. Ich erwarte mir da von Gesundheitsministerin Pamela Rendi-Wagner einen offenen und pragmatischen Zugang.

STANDARD: Gesteht man Älteren weniger zu?

Bachinger: Das Alter wäre aus meiner Sicht ein falsches Kriterium, es könnte aber fachlich- medizinische, ethische und auch ökonomische Kriterien geben. Es sind Fragen zu stellen, wie: Ist es der Gesellschaft 200.000 Euro wert, wenn ich ein neues Krebsmedikament habe, das ein, zwei Wochen längeres Überleben bringt, während gleichzeitig die individuelle Lebensqualität sinkt? Diese Fragen werden auch jetzt entschieden, nur vollkommen intransparent auf einer unstrukturierten, individuellen Ebene. Ein Oberarzt mit 20 Patienten hat zum Beispiel nur für zehn Patienten das Budget, er muss triagieren. Das passiert auf einer Ebene, die mir Unwohlsein verursacht. Das führt auch zu Versuchen, Patienten in andere Bundesländer zu verschieben. Das Ziel muss sein: offene Priorisierung statt verdeckter Rationierung.

STANDARD: Gewerkschaftsgründer und Arzt Gernot Rainer stellt im Buch "Kampf der Klassenmedizin" Controller und Consulter als Feindbild des Gesundheitswesens dar. Zu Recht?

Bachinger: Ich halte das Verteufeln der Ökonomie für falsch. Leben wir wirklich in Verhältnissen, in denen alles, was die Medizin anbietet, finanziert werden kann? Wenn ich das mit Ja beantworte, sind die Ökonomen des Teufels, das ist aber ein Mythos. Es gibt beschränkte Ressourcen. Man sagt, die Bedürfnisse des Gesundheitswesens sind so umfassend, dass 100 Prozent des BIPs hineinfließen könnten und es immer noch unerfüllte Bedürfnisse gäbe. Konzentrations- und Zentralisierungsprozesse in der Krankenhauslandschaft werden unbedingt notwendig sein, weil finanzielle als auch personelle Ressourcen für eine derart dichte, flächenhafte Versorgung nicht mehr gegeben sind.

STANDARD: Wenn man dann aber im Notfall, wenn jede Minute zählt, länger ins Spital braucht ...

Bachinger: Was ist Ihnen lieber? Sie haben fünf Minuten ins nächste Grundversorgungskrankenhaus, wo Sie wissen, dass die Komplikationsrate wegen nicht ausreichender Auslastung drei- bis viermal so hoch ist und Sie möglicherweise auch noch überstellt werden müssen, oder Sie werden gleich ins nächste Zentrum geführt, wo die Quantität – in der Medizin heißt Quantität wegen geringerer Komplikationsraten auch Qualität – deutlich höher ist und zusätzliche Fachabteilungen vorhanden sind? Dazu kommt, dass Verkehrsverbindungen und zum Beispiel die notärztliche Versorgung heute besser sind als zu der Zeit, als sich die aktuelle Spitalslandschaft entwickelt hat.

STANDARD: Österreich leistet sich 21 Sozialversicherungsträger, zu deren Zukunft Sozialminister Alois Stöger (SPÖ) eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben hat. Kritiker sehen darin wichtige Fragen ausgeklammert. Was beobachten Sie?

Bachinger: Ich weiß nicht, was am Ende herauskommt, aber vor zwei Wochen wurde ich als Sprecher der Patientenanwälte mit einem Kollegen befragt. Als Vorbereitung für das Interview gab es einen Fragenkatalog, der vollkommen offen war. Rein von der Methodik her sehe ich kein vorgegebenes Ergebnis.

STANDARD: Welche Konsequenz wäre wünschenswert?

Bachinger: Am Institut für Höhere Studien hat Thomas Czypionka bereits vor rund zehn Jahren eine Studie zur Finanzierung aus einer Hand gemacht. Wenn die Kompetenzen gebündelt werden, ist es eigentlich egal, aus welcher Hand – ob Hauptverband, Gesundheitsministerium oder Länder – das dann kommt. Es sollte vollständig umgesetzt werden und nicht unser "Mischsystem" bleiben. Auch wenn es zum Beispiel durch die Länder neun Finanzierungen aus einer Hand gäbe. Ein gewisser Wettbewerb ist auch im Gesundheitssystem nicht schlecht. Wichtig wäre, dass man Financier und Anbieter trennt und den für das regionale System Verantwortlichen auch die Verantwortung über die Mittelaufbringung überträgt.

STANDARD: Primärversorgungseinrichtungen sollen im niedergelassenen Bereich die Versorgung verbessern, doch die Ärztekammer bremst.

Bachinger: Alle waren sich einig, auch die Ärztekammer, dass das PHC-Modell umgesetzt werden soll (PHC steht für Primary Health Care – unter anderem sollen in Primärversorgungseinrichtungen Allgemeinmediziner bei längeren Öffnungszeiten zusammenarbeiten, Anm.). Wenn sich alle einig sind, warum muss dann das Bestehende bleiben? Gleichzeitig wird von der Kammer ja kritisiert, dass das bestehende System nicht gut läuft. Immer wieder kommt das Argument: Der Hausarzt wird einem weggenommen. Das stimmt nicht: Auch in PHCs kann man, wenn man will, zu einem bestimmten Arzt gehen.

STANDARD: Der Weg zu ihm könnte aber weiter sein?

Bachinger: Ja, dafür sind die Öffnungszeiten wesentlich länger, und das fachliche Angebot verschiedener Gesundheitsdienstleister ist wesentlich besser. Außerdem sollen PHCs auch in vernetzten, dezentralen Strukturen betrieben werden, und Hausbesuche sollen verstärkt werden. Es soll und muss also nicht immer nur ein Zentrum in einer Stadt sein.

STANDARD: Die Ärztevertretung fürchtet, dass Arztpraxen von Kapitalgesellschaften geführt und "handelbare Ware" werden. Teilen Sie die Sorge?

Bachinger: Das kann ich nur belächeln. Das klingt so, als dürfte der Arzt Geld verdienen und als Freiberufler Gewinne machen, bei allen anderen ist es aber unethisch. Allerdings: Ich will in dem Bereich auch keine Kapitalgesellschaften haben, und das wird nicht passieren. Große Labor- und Radiologie-Institute werden aktuell auch von Ärzten geführt, obwohl es keine gesetzlichen Vorschriften gibt, dass das nicht auch Kapitalgesellschaften machen dürften.

STANDARD: Sie sagen, es gibt keinen Ärztemangel in Österreich, sondern ...

Bachinger: ... ein Verteilungsproblem: Der Wahlarztbereich boomt. Auch die Zahl der Medizinabsolventen ist viel höher als der Bedarf. Aber viele Ärzte gehen ins Ausland.

STANDARD: Wie könnte man dem entgegenwirken?

Bachinger: Wenn die Arbeitsbedingungen verbessert werden, bei PHCs etwa durch multiprofessionelle Teamarbeit und Verteilung der Belastungen, dann ist damit zu rechnen, dass viele nicht ins Ausland gehen und viele aus dem Wahlarztsektor in den Kassenbereich wechseln. Da die Medizin weiblicher wird, ist für viele ausreichend Zeit für Kinderbetreuung ein Thema. Work-Life-Balance ist heute wichtiger.

STANDARD: Warum wächst in Österreich die Bereitschaft, für Arztbesuche zu zahlen?

Bachinger: Es soll jeder sein Geld ausgeben, wie er will. Viele Leute gehen aber zum Wahlarzt, weil die Hausaufgaben im niedergelassenen Bereich im Kassensystem nicht mehr zu erledigen sind. Ich habe Schreiben von Mindestpensionistinnen, die sagen, sie legen sich 30 Euro im Monat weg, damit sie nicht vier Monate auf einen Augenarzttermin im Kassensystem warten.

STANDARD: Stichwort digitale Revolution. Im Gesundheitsbereich rollt sie nur langsam an. Warum?

Bachinger: Sowohl bei Patienten als auch bei Gesundheitsberufen ist das eine Generationenfrage. Warum soll man nicht mit dem Arzt über Bildschirme kommunizieren? Dazu gibt es in England und in der Schweiz bereits Projekte. Bei uns gibt es hoffentlich bald die telefonische Gesundheitshotline, die man konsultieren kann, wenn man ein gesundheitliches Problem hat. Auch die E-Medikation ist eigentlich banal: Zunächst geht es nur darum, dass eine aktuelle elektronische Liste der verordneten und wechselwirkungsrelevanten rezeptfreien Medikamente erstellt wird. Warum die Ärztekammern damit ein Problem haben, verstehe ich nicht.

STANDARD: Seit Jänner gibt es die elektronische Gesundheitsakte (Elga) in Spitälern in Niederösterreich. Wie läuft's?

Bachinger: Immer wieder melden sich Menschen, die sich abmelden wollen, aber ein Face-to-Face-Gespräch hat bisher noch jedes Mal dazu geführt, dass diese sagen, jetzt kenne ich mich aus und melde mich doch nicht ab. Wir haben im Gesundheitsbereich viele Change-Prozesse. Die Politik hat nicht verstanden, dass diese intensiv für die Bevölkerung vorzubereiten und zu begleiten sind. Fragen Sie jemanden da draußen, was PHC oder Elga ist! Wenn man aber die Bevölkerung mit im Boot hat, kann man zum Beispiel standespolitische Prozesse überwinden. Die Ärztekammern machen massives, wenn auch in die falsche Richtung gehendes "Akzeptanzmanagement" bei den Leuten.

STANDARD: Durchimpfungsraten in Österreich, etwa gegen Masern, sinken. Was erwarten Sie sich da von Gesundheitsministerin Rendi-Wagner?

Bachinger: Da sie aus diesem Bereich kommt, erwarte ich mir Nägel mit Köpfen. Aufklärung reicht nicht, es muss neue Maßnahmen geben. Die absoluten Impfgegner sind eine vernachlässigbare Gruppe. Auf jene, die aus Wurschtigkeit nichts tun, sollte man den Fokus stellen. Da könnte man etwa mit dem elektronischen Impfpass die Durchimpfungsrate wesentlich heben. Wenn zum Beispiel mit einem Erinnerungssystem Patienten ein halbes Jahr, bevor der Impfschutz abläuft, eine Nachricht erhalten, könnte man viele Menschen damit erreichen.

STANDARD: Und wie sehen Sie die generelle Impfpflicht?

Bachinger: Finanzielle Anreize, also Bonus-Modelle wie beim Erfolgsmodell Mutter-Kind-Pass, wären möglich. Wobei ich beim Gesundheitspersonal für eine ganz strenge Impfpflicht bin.

STANDARD: Sie sprechen laufend Baustellen im Gesundheitssystem an. Was sind Leuchtturmprojekte?

Bachinger: Es gibt etwa im Waldviertel ein international beachtetes Referenzprojekt, bei dem sich das Krankenhaus Horn mit anderen peripheren Krankenhäusern und Radiologie-Instituten im niedergelassenen Bereich vernetzt hat. Jeder an der Behandlung beteiligte Klinikarzt kann an jedem der fünf Standorte mit nur einem Mausklick sämtliche Daten und Untersuchungen eines Patienten auf seinem Bildschirm über Streaming aufrufen. Ein Zweites ist der Watson Health: ein kognitives Assistenzsystem, das Wissensmanagement erledigt.

STANDARD: Sie müssen als Patientenanwalt dem Land Niederösterreich auf die Füße steigen, waren aber vorher in dessen Verwaltung. Wie geht das zusammen?

Bachinger: Sobald ich gewechselt hatte und Patientenanwalt wurde, hatte ich vollkommene Freiheit in meiner neuen Tätigkeit. Das war und ist sicher überraschend und eine besondere Situation. Ich bin sogar in einer besonders guten Position, weil ich nicht auf Zeit bestellt bin.

STANDARD: Wie verhält sich Gerald Bachinger als Patient?

Bachinger: Ich komme ja hauptsächlich mit "Grauslichkeiten" des Gesundheitssystems in Kontakt, daher vermeide ich, wenn es nicht unbedingt notwendig ist, einen Arzt oder ein Krankenhaus. Mir ist aber bewusst, dass ich da einem Bias unterliege. (Gudrun Springer, CURE, 24.4.2017)