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Die Bolschewiki eroberten unter Lenins Führung in der Oktoberrevolution von 1917 die Macht. (Lenin-Statue vor dem finnischen Bahnhof in St. Petersburg)

Foto: AP/Dmitri Lovetsky

Wien – Im heutigen Russland herrscht kein Konsens in der Beurteilung der Revolution von 1917 und ihrer Ergebnisse. Wohl aber gibt es Angst vor einer "zweiten Revolution". Das war die Essenz eines Diskussionsabends mit russischen Diplomaten und Vertretern anderer öffentlicher Institutionen am Montag in der Diplomatischen Akademie in Wien.

Anatoli Blinow von der Stiftung Russische Welt stellte die Frage, ob die 1917er-Revolution, deren 100. Jahrestag heuer begangen wird, nicht ein "tragischer Fehler" gewesen sei. Die Bolschewiki hätten Marx jedenfalls gründlich missverstanden, der das Agrarland Russland als völlig ungeeignet für eine Revolution betrachtet habe. Staatschef Wladimir Putin beurteile seinerseits die Revolution negativ und habe sie in ihren Auswirkungen auf das Land mit einer Atombombe verglichen.

Heftige Debatten

Interessant ist Blinows Einschätzung, die Revolution von 1917 habe die Verbreitung des Kommunismus in Europa befördert und damit letztlich zum Zweiten Weltkrieg geführt. Der im Vorjahr verstorbene deutsche Historiker Ernst Nolte hatte mit seiner These, der "Rassenmord" unter Hitler sei im Wesentlichen eine Reaktion auf Stalins "Klassenmord", eine heftige Debatte ausgelöst.

Heute solle die Revolution nicht dazu missbraucht werden, die russische Gesellschaft erneut zu spalten, meinte Blinow. Die überwiegende Mehrheit der Russen lehne Revolutionen wie die Orange in der Ukraine ab. Für eine solche gebe es auch keine objektiven Gründe, wohl aber für soziale Reformen.

Erbe der Revolution

Natalia Maslakowa-Clauberg vom Zentrum für Studien der Weltkulturen an der Diplomatischen Akademie des russischen Außenministeriums ortet mit Blick auf das Erbe der Revolution im heutigen Russland fünf gesellschaftliche Gruppen: Kommunisten und Sowjet-Nostalgiker; Monarchisten (eine kleine Gruppe von Anhängern der Romanow-Dynastie); Befürworter des "orthodoxen Russlands" mit der Devise "Gott, Zar, Vaterland"; Anhänger der Größe des russischen Imperiums; und schließlich die neue Generation, antisowjetisch und proeuropäisch. Maslakowa-Claubergs Zukunftseinschätzung: "Es braucht Zeit."

Oleg Iwanow, Vizedirektor der Moskauer Diplomatischen Akademie, sieht das gegenwärtige Spannungsverhältnis zwischen Russland und dem Westen auch als ein Erbe der Revolution von 1917. Seine Vorschläge zur Entkrampfung: die Erfahrungen aus der Zeit der Entspannung (détente) nutzen; gegenseitige Dämonisierung vermeiden; weg von Kalter-Krieg-Aktionen, hin zu mehr Kooperation; pragmatischer Zugang zu Problemlösungen.

Die Nato wird laut Iwanow seit ihren Interventionen im damaligen Jugoslawien und auch in Afghanistan von Russland nicht mehr als rein defensive Allianz gesehen. Dass sie immer näher an Russland heranrücke, bestätige diese Einschätzung. Dagegen gelte die EU nicht als Gegner. Doch lehne man es strikt ab, Länder der ehemaligen Sowjetunion vor die Wahl zu stellen: entweder mit Moskau oder mit Brüssel. (Josef Kirchengast, 28.3.2017)